Großbritannien:Labour unter Antisemitismus-Verdacht

Großbritannien: Ken Livingstone, ehemaliger Bürgermeister von London, nach seinem Parteiausschluss.

Ken Livingstone, ehemaliger Bürgermeister von London, nach seinem Parteiausschluss.

(Foto: AP)
  • Wegen antisemitischer und rassistischer Äußerungen hat die Labour-Partei in den vergangenen Monaten mehrere Mitglieder ausgeschlossen.
  • Unter anderem musste auch der ehemalige Londoner Bürgemeister Ken Livingstone Labour vorübergehend verlassen, nachdem er im Radio erklärt hatte, das Adolf Hitler den Zionismus unterstützt habe.
  • Die Affäre kommt für die Partei zur Unzeit: Am Donnerstag stehen mehrere Wahlen an.

Von Esther Widmann

Im Vereinigten Königreich ist der Blick auf die NS-Zeit naturgemäß ein anderer als in Deutschland. Im öffentlichen Rundfunk werden mitunter Witze über Hitler und das Dritte Reich gerissen, wegen denen man in Deutschland Angst um seinen Job haben müsste.

Fernsehserien, in denen Gestapo-Mitglieder als unfähige Volltrottel dargestellt werden, sind aber etwas anderes als ernst gemeinte öffentliche Äußerungen von Politikern. Einige Aussagen des ehemaligen Londoner Bürgermeisters Ken Livingstone haben nun einen Skandal und eine Debatte über Antisemitismus in der Labour-Partei verursacht. Livingstone und weitere Mitglieder wurden vorübergehend von der Partei ausgeschlossen.

Eine Labour-Abgeordnete nennt Hitlers Taten "legal"

Die Affäre begann am vergangenen Mittwoch mit einem Facebook-Eintrag der pakistanischstämmigen Labour-Abgeordneten Naz Shah von 2014. Darin plädierte sie dafür, die israelische Bevölkerung in die USA zu transportieren. Im Laufe des Tages fanden die Medien immer mehr Einträge von Shah, viele davon stammen offenbar aus der Zeit des jüngsten Gaza-Kriegs 2014. In einem Post heißt es: "Wir sollten niemals vergessen, dass alles, was Adolf Hitler in Deutschland getan hat, 'legal' war."

Am folgenden Tag druckten viele Zeitungen das Thema auf ihre Titelseiten. Labour-Chef Jeremy Corbyn ließ verlauten, Shahs Kommentare seien "beleidigend und inakzeptabel". Shah entschuldigt sich öffentlich in der Zeitung Jewish News und vor dem Unterhaus. Am Nachmittag wurde sie aus der Partei zeitweilig ausgeschlossen.

Damit wäre die Sache womöglich erledigt gewesen, hätte nicht am folgenden Tag Ken Livingstone der BBC ein Interview gegeben (hier nachzuhören). Zunächst wiederholte er, was er am Tag zuvor gesagt hatte: Shahs Aussagen seien "übertrieben", doch sie sei keine Antisemitin. Auf die Frage, ob es nicht antisemitisch sei, Hitlers Handlungen als "legal" zu bezeichnen, antwortete Livingstone dann aber: "Als Hitler 1932 seine Wahl gewann, war es sein Programm, dass Juden nach Israel gebracht werden sollten. Er unterstützte den Zionismus." Danach sei er jedoch "verrückt geworden" und habe sechs Millionen Juden umgebracht.

Am Wochenende wurde Livingstone ebenfalls von der Partei suspendiert. Es tue ihm leid, dass er so viel Ärger gemacht habe, sagte er. Seine Äußerungen seien jedoch eine "Tatsachenaussage". Die BBC ließ einen Historiker erklären, warum Livingstones Aussagen auch historisch inkorrekt sind.

In der Öffentlichkeit entbrannte eine Debatte darüber, ob es sich bei den fraglichen Mitgliedern um Einzelfälle handelt oder ob die ganze Labour-Partei von Antisemitismus durchzogen ist. Parteichef Corbyn wurde vorgeworfen, er habe zu zögerlich agiert. Er kündigte daraufhin eine unabhängige Untersuchung des Antisemitismus in der Partei an. Bei einer Kundgebung zum 1. Mai nahm Corbyn auf die Ereignisse Bezug, als er sagte: "Wir stellen uns absolut gegen Antisemitismus und Rassismus in jeder Form. Wir erkennen unsere Diversität der Ethnizität und des Glaubens an, und von dieser Diversität kommt unsere Stärke."

Doch die Sache ist noch immer nicht ausgestanden: Am Montag entzog die Partei erneut drei Lokalpolitikern vorübergehend die Mitgliedschaft. Auch sie waren wegen Äußerungen im Internet in die Kritik geraten:

  • Shah Hussain aus Burnley hatte über Twitter einem israelischen Fußballspieler geschrieben, Israel behandele die Palästinenser wie Hitler früher die Juden. Der Nachrichtenagentur AP sagte er, er werde gegen die Suspendierung vorgehen. Juden, die seinen Kommentar beleidigend fänden, sollten überlegen, was wohl "der Rest der Welt" über ihre Behandlung der Palästinenser denke, sagte der Lokalpolitiker.
  • Ilyas Aziz, der in Nottingham im Stadtrat sitzt, hatte auf Facebook erklärt, es wäre wohl weiser gewesen, den Staat Israel in den USA zu gründen. Israel könne "auch jetzt noch" umgesiedelt werden.
  • Der ehemalige Bürgermeister von Blackburn, Salim Mulla, soll abwertende Kommentare über zionistische Juden gepostet haben.

Außerdem kam heraus, dass das Problem der Partei schon länger bekannt war: Nach eigenen Angaben hat Labour seit vergangenem Oktober etwa ein Dutzend Mitglieder wegen rassistischer oder antisemitischer Kommentare suspendiert. Die Zeitung The Telegraph will erfahren haben, dass die Zahl tatsächlich sehr viel höher liegt, nämlich bei 50.

Für Corbyn und für Labour kommt die Affäre zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt: Am 5. Mai finden Regionalwahlen in Schottland, Wales und Nordirland statt. Außerdem wählen die Londoner einen neuen Bürgermeister, einen Nachfolger für den Konservativen Boris Johnson. Ins Rennen gehen der Milliardärssohn Zac Goldsmith für die Konservativen und für Labour Sadiq Khan, dessen Eltern aus Pakistan kommen. Zuletzt lag der Muslim Khan in den Umfragen vorne. Durch die Aussagen seiner Parteifreunde sieht er seine Chancen geschmälert: "Das macht es für Londoner jüdischen Glaubens schwieriger, sich in der Labour-Partei zu Hause zu fühlen", sagte der 45-Jährige der Zeitung The Observer.

Mit Material aus den Agenturen.

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