Großbritannien:Im Schlaf bis Berlin

Und plötzlich war Europa offen. Nach Jahrhunderten voller Kriege entdeckten die Briten den Kontinent und staunten. Pizza, Camel, Liebfrauenmilch - und lauter coole Menschen wie sie selber.

Von Mark Rice-Oxley (Guardian)

Herzlichen Glückwunsch, EU. Wirklich schade, dass wir bei der Party nicht dabei sein können. Ich habe dir mein Geschenk im vergangenen Jahr überreicht, du erinnerst dich. Es war ein Kreuz auf dem Wahlzettel. Das haben viele Gleichaltrige auch so gemacht. Man schätzt, dass die 25- bis 49-Jährigen mit 55 Prozent für einen Verbleib gestimmt haben. Leider waren es nicht genug.

Es gibt immer noch gute Gründe, weshalb viele in meiner Generation finden, dass die EU eine gute Sache ist. Wir sind etwa so alt wie die britische Mitgliedschaft. Wir sind groß geworden in einer Zeit, in der wir uns für alles öffneten, was mit Europa zu tun hatte. Ich meine nicht nur Abba, Spiele ohne Grenzen, und Johan Cruyff. Ich meine vor allem Austauschprogramme und Brieffreundschaften, Interrail und Espadrilles, Pizza und Liebfrauenmilch. Europäer, so hat sich herausgestellt, waren normal, cool, interessant und interessiert.

Das war eine Genugtuung für alle von uns, die in Geschichte gut aufgepasst haben. Das Erste, was britische Kinder der Siebzigerund Achtzigerjahre nämlich über Kontinental-Europa gelernt haben, war, wie grausam man in den vergangenen tausend Jahren zueinander war. Waterloo, Trafalgar, die Schlachten an der Somme und in Agincourt, die bei Crécy und die von Austerlitz, der D-Day. Es gab Krieg ohne Ende - und wie nur all die winzig kleinen Nationen zerdrückt wurden von selbstsüchtigen Gewaltherrschern und Zaren und Königen und Despoten, die jeden niedergemetzelt haben, der nicht so dachte wie sie.

Vor diesem Hintergrund war es eine Erleichterung, dass wir am Ende einen Weg gefunden haben, um miteinander klarzukommen. Er hieß Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, und falls es auch nur ein Happen war, dann wenigstens aus einem Land, das exzellenten Kuchen macht. Die EWG, so wie sie damals war, war ein Instrument zur Zusammenarbeit, von der alle profitierten, ein Werkzeug für Solidarität, die grenzüberschreitend so vieles befruchtet hat, ein Mittel zur Versöhnung der Nationen. Gut, sexy war es nicht, aber das ist das Sterben in einem Schützengraben auch nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Leute wie ich dazu aufgerufen würden, als dritte Generation nacheinander gegen die Deutschen zu kämpfen, schien abwegig zu sein, solange es die Wirtschaftsgemeinschaft gab.

Reisefreiheit weckte damals ganz andere Gefühle. Heut schwingen dunklen Untertöne mit

Es wurde sogar noch besser. Europa war offen! Du konntest einfach überall hingehen. Wenn die Achtzigerjahre für die Briten den wahren Beginn von Europa-Urlauben markierten, dann waren die Neunzigerjahre das Jahrzehnt, in dem wir in Massen dort hinzogen. Wir entdeckten den Kontinent, wie dies unsere Eltern niemals konnten. Campingplätze und Cafés, Camel-Zigaretten und neue Arten, Kaffee zu machen. Ibiza, Toskana, Berlin. Trampen, Zugbahnhöfe und Schlafwagen, die in einem Land losfuhren und am nächsten Morgen in einem völlig anderen ankamen. "Ist das Österreich?", fragte mein übernächtigter, verkaterter Mitreisender eines Morgens, ein paar Wochen vor der Wende. "Deutschland", antwortete ich. "Deutschland, bis um halb zwölf."

Das Wort Reisefreiheit weckte in den Neunzigerjahren ganz andere Gefühle als die dunklen Untertöne von heute vermuten lassen. Wenn dir danach war, konntest du einfach auf einen Zug aufspringen und dich in den Niederlanden oder in Portugal niederlassen. Eurostar, Billigflüge, günstige Autos. Keine Visa, kein Ärger. Nimm einfach einen Job auf einer Baustelle an, in einer Bank, oder in einer Bar.

Oh, was für eine Ironie: Für uns bedeutete Europa die Abwesenheit von kleinkarierten Gesetzen und Regeln, nicht ihre Zunahme. Wir lernten Spanier kennen und Niederländer, Finnen und Italiener. Aufschlussreich war, dass wir mit diesen jungen Ausländern mehr gemeinsam hatten als mit unseren Landsleuten. Wer wusste schon, dass Deutsche genauso sind wie wir? Wir Menschen sind wirklich alle gleich - nur die an der Macht sind anders. Es fühlte sich tatsächlich so an, dass die Nationalität keine Rolle spielte; es war lediglich ein Trick der Vergangenheit, ein Werkzeug für schlechte Herrscher, um Kritik umzulenken und den Menschen etwas zu geben, hinter das sie sich versammeln konnten.

Manche sagen, du kannst Europa lieben, ohne die EU zu lieben. Für uns ist das falsch

Und während die Briten Europa genossen, wurde Großbritannien selber europäischer, die Lebensmittel, die wir aßen, die Fußballspieler, denen wir zuschauten, die Klamotten, die wir trugen, die Autos, die wir fuhren, die Vorstandsvorsitzenden, die wir einsetzten, die Freundschaften, die wir schlossen, die Menschen, die wir heirateten. Supermärkte führten französische Käsesorten ein, italienische Schinken, Schaumweine und belgische Biere. Kulturell sind wir ziemlich angelsächsisch geblieben (trotz der Musik von Kraftwerk, den Romanen Houellebecqs und den Filmen von Kieślowski und Almodovar). Aber sozial sind wir mehr und mehr zu Europäern geworden. Das erste Haus, das ich kaufte, (ich gebe zu, im kosmopolitischen London) lag in einer Ecke, die wie ein Mini-Brüssel ohne das Manneken Pis war: Schweden in Hausnummer 2, Deutsche in Nr. 6, Portugiesen in Nr. 9, es gab Franzosen, Norweger, und uns. Es hat alles so interessant gemacht. Wir lebten irgendwo.

Von wann an lief dann alles schief? Zurückblickend ist es klar, dass diese Europäisierung vielleicht nur für eine äußerlich fokussierte Minderheit von Belang war. Der Trend drehte sich in den 2000er- Jahren, obwohl es immer noch sehr schwer ist, genau zu sagen, warum. War es die Einwanderung? Die Wirtschaft? Elitäres Denken? Selbstgefälligkeit? Langeweile? Oder vielleicht waren auch einfach jene besser darin, die die Europäische Union kleinredeten als jene, die sie priesen.

Manche sagen, Du kannst Europa lieben, ohne die EU zu lieben. Für meine Generation ist diese Sichtweise falsch. Es waren die Kameradschaft und die Brüderlichkeit, die die EU gefördert hat und die uns half, Europa zu entdecken und uns in es zu verlieben. Und das macht die Scheidung um so viel bitterer.

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