Großbritannien:Einer schert aus

The leader of the Labour Party Jeremy Corbyn responds to Britain's Prime Minister Teresa May's address to the House of Commons on her government's reaction to the poisoning of former Russian intelligence officer Sergei Skripal and his daughter

Kontrapunkt im Unterhaus: Die Krise verlange nicht nach einer „robusten Antwort“, sondern nach robustem Dialog, sagt Labour-Chef Jeremy Corbyn.

(Foto: Reuters)

Der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn mahnt im Fall Skripal zu Besonnenheit gegenüber Moskau. Das bringt ihm Kritik nicht nur von der Opposition, sondern auch aus den eigenen Reihen ein.

Von Cathrin Kahlweit, London

Dem 68-jährigen Chef der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, ist in den vergangenen Monaten vieles vorgeworfen worden. Er habe einem Spion der ehemaligen Tschechoslowakei in den Achtzigerjahren Informationen zukommen lassen. Er habe nie aufgehört, sich für den Linkspopulisten Hugo Chávez zu begeistern, nie die ruinöse Politik von dessen Nachfolger Nicolás Maduro in Venezuela verurteilt. Corbyn, einer der letzten ausgewiesenen Sozialisten an der Spitze einer europäischen Volkspartei, habe sich auch nie entschieden für oder gegen den Brexit positioniert. Konservativen in Großbritannien gilt er daher als alter, unbelehrbarer Zausel, der nicht verstanden hat, wohin der neue Zeitgeist weht. Und vielen Unternehmern im Königreich raubt der Gedanke den Schlaf, dass der Oppositionschef, der Labour in den vergangenen zwei Jahren zu neuer Popularität verholfen hat, nach einem Sturz von Theresa May Premierminister werden könnte. Denn Corbyn ist überzeugter Anhänger eines starken Staates.

Doch just dieser Staat präsentiert sich jetzt, da die britische Regierung sich wegen des Mordversuchs an dem Doppelagenten Sergej Skripal und seiner Tochter massiv mit Russland anlegt, in den Augen von Jeremy Corbyn sogar viel zu stark. Im innenpolitischen Streit um die richtige Reaktion auf die Provokationen aus Russland hat der Labour-Chef von Anfang an einen grundlegend anderen Ton angeschlagen als May: Die Urheberschaft des Anschlags sei nicht zweifelsfrei belegt, London agiere ohne ausreichende Beweise; es sei gut möglich, dass nicht der Geheimdienst FSB, sondern russische Kriminelle es auf Skripal abgesehen hätten.

Und nicht nur das: Corbyn verdarb May am vergangenen Montag und Mittwoch mit seinen Gegenreden den Auftritt im Unterhaus, weil er sich partout weigerte, Tonfall und Einschätzung zu übernehmen, dass dies eine nationale Krise sei, die eine "robuste Antwort" verdiene: Diese Krise verdiene vielmehr eine robuste Kommunikation mit Moskau, keinen Abbruch der Beziehungen. Und die Tories seien es, die sich von den Spenden russischer Oligarchen in der Vergangenheit hätten korrumpieren lassen. Außerdem wisse man ja seit dem Irak-Krieg, dass Dossiers über Chemiewaffen manipuliert werden könnten. Die Folge seiner Äußerungen: Empörung bei den Tories. Die Vorwürfe reichen von "lauwarmer Solidarität" bis zu "Vaterlandsverrat". Aber auch: Empörung und Entsetzen bei Labour.

Corbyn hat mit seinen Äußerungen, die er in der Folge abschwächte, aber nicht zurücknahm, eine ohnehin existierende Spaltung in der Partei vertieft. Und er hat die massiven Zweifel vieler Wähler verstärkt, die ihn zwar für einen guten Redner und engagierten Vertreter der sogenannten kleinen Leute halten, aber in ihm nicht unbedingt einen Staatsmann sehen.

Erst waren es vor allem Hinterbänkler, in den vergangenen Tagen aber auch immer mehr prominente Abgeordnete, die sich explizit von ihrem Chef distanzierten. 19 Parlamentarier haben in einem offenen Brief mitgeteilt, dass sie May und ihr Vorgehen unterstützen. Mitglieder des Schattenkabinetts von Labour sagten, sie seien anderer Meinung als Corbyn, die Indizien verwiesen eindeutig auf den Kreml. Ein Abgeordneter stand im Unterhaus auf und sagte, während er seinen Parteichef anschaute, er finde manche Reaktion an diesem Tag unangemessen. May und ihre Minister nickten begeistert.

Für May hat die Krise auch positive Seiten: Den Wählern gefällt ihre konfrontative Art

Für die Premierministerin hat die schwere diplomatische Krise, in die Großbritannien mit dem Anschlag von Salisbury geraten ist, bei aller Tragik und aller Gefahr auch positive Aspekte: Die einstige Innenministerin, die nie in der Rolle der mitfühlenden Konservativen angekommen war, sondern ihre stärksten Momente als Hardlinerin hat, kann sich jetzt als erfahrene Krisenmanagerin präsentieren. Die Labour-Partei, die in Umfragen während der chaotischen Brexit-Verhandlungen zu den Tories aufgeschlossen hatte, ist wieder zurückgefallen; den Wählern gefällt Mays konfrontative Art.

Corbyn hat auf den Druck aus Partei und Öffentlichkeit mit einem Gastbeitrag im Guardian reagiert. Darin räumt er zwar ein, die vorliegenden Beweise machten eine Beteiligung Moskaus wahrscheinlich, und die Ausweisung von 23 russischen Diplomaten sei richtig. Zugleich aber brauche es eine ruhige, abwägende Reaktion. Auf keinen Fall dürfe Großbritannien in einen neuen Kalten Krieg schlittern, der mehr Aufrüstung und mehr Stellvertreterkriege nach sich ziehe.

Und dann teilte Corbyn noch einmal aus: Er verwahrte sich gegen eine "McCarthy-artige Form der Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen". Damit warnte er auch die Gegner in der eigenen Partei.

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