Großbritannien:Die Wucht des Brexit zerschellt am Recht

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"Ja zur EU" sagt nicht nur ein Demonstrant, sondern auch die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament. (Foto: Bloomberg)

Das Referendum über den EU-Austritt drückt einen Wunsch aus. Umsetzen kann den nur das Parlament - das aber mehrheitlich gegen den Brexit ist. Nur Neuwahlen können das Problem lösen.

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Für den Brexit gilt: Jedem Ende wohnt ein Zauber inne. Deshalb ist es, mit ein wenig Abstand betrachtet, geradezu faszinierend, wie plötzlich vieles möglich zu sein scheint, selbst der Exit vom Brexit.

Nach dem Beben legt sich also der Staub, der Blick fällt auf die Trümmerwüste. Erstaunlich ist, was da noch steht - und was im Schutt liegt. Zerstört ist zunächst die Hoffnung von 52 Prozent der Wähler, dass sie sofort nach der Abstimmung Abschied von Europa nehmen könnten. David Cameron hat ihnen das versprochen, aber der Premier zog es vor, die Verantwortung für den historischen Schritt seinem Nachfolger zu überlassen.

Alle schienen zu glauben, allein das Referendum entscheide über den Austritt

Zerstört ist zweitens ein großer Teil der Brexit-Versprechen: Inzwischen haben die Führungspersönlichkeiten des Brexit-Lagers klargemacht, dass in absehbarer Zeit weder mit weniger Migranten noch mit mehr Geld für das Gesundheitssystem zu rechnen sein wird. Erfüllt hat sich auch nicht die Zusage, dass die Wirtschaft ohne Schäden aus der Abstimmung hervorgehen wird. Weite Teile der britischen Industrie, der Dienstleister, der Forschungslandschaft, der Universitäten, des Handels und vieler, vieler Institutionen mehr sind von blanker Panik erfasst. Die Brexit-Anführer haben sich aus dem Staub gemacht, die Felsen von Dover können gar nicht so viel Kreide abwerfen, wie da gerade gefressen wird.

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Von besonderer Kühnheit war die Behauptung, allein das Referendum befinde über den Austritt. So einfach ist es natürlich nicht. Rückblickend ist es vielleicht das größte Rätsel der Brexitmania der letzten Monate, wie diese Lesart der demokratischen Mechanik entstehen konnte. Großbritannien ist noch immer eine repräsentative, keine direkte Demokratie. Das Parlament als vom Volk bestimmtes Schlüsselorgan des demokratischen Staates ist Hüter der Souveränität. Das ist die Essenz der (ungeschriebenen) britischen Verfassung. Per Volksentscheid wird in Großbritannien nicht entschieden.

Diese Verfassung hat noch ein paar zusätzliche Kontrollmechanismen eingebaut, um extreme Ausschläge der Politik zu verhindern. Noch kann etwa das Oberhaus ein Austrittsverfahren jederzeit stoppen, noch können die starken Regionen ein Konsultationsrecht geltend machen, noch gibt es den Rechtsweg für viele britische Staatsbürger im EU-Ausland, die aus diversen Gründen von der Abstimmung ausgeschlossen waren. Darüber hinaus ergeben sich gravierende rechtliche Probleme aus den Folgen eines Austritts für Millionen Unionsbürger. Der Austrittswunsch kollidiert mit Grundrechten, wie sie die EU all ihren Bürgern zugesteht und die auch die Briten anerkannt haben.

All dies kann das Urteil der 52 Prozent nicht revidieren. Unsinnig ist dabei auch die Behauptung, nun hätten es sich ein paar Wähler doch anders überlegt und man müsse nur noch einmal abstimmen. Im Referendum liegt eine klare Botschaft. Wer sie ignoriert, der trägt nicht minder zur Zerstörung jener Demokratie bei, die er zu schützen vorgibt.

Und doch zerschellt die politische Wucht der Volksbefragung an der wichtigsten Klippe, die auch und gerade den britische Staat seit Jahrhunderten schützt: dem Recht. Rechtsstaatlichkeit muss das oberste Prinzip bei diesem gravierenden Wunsch nach Austritt bleiben, gerade in jenem Land, dem die Welt die Rechtsstaatlichkeit verdankt.

Nur Neuwahlen werden die Briten aus dem Dilemma befreien

Das Referendum drückt einen Wunsch aus, keinen Befehl. Die Umsetzung des Austritts obliegt dem Parlament. Dieses Parlament aber hat sich in seiner überwältigenden Mehrheit gegen einen Austritt ausgesprochen. Die Abgeordneten können den Wählerwunsch also nur gegen ihren ureigenen Willen erfüllen - ein Dilemma, das sich bei der Tragweite dieser Entscheidung nicht per Gewissensentscheidung lösen lässt.

Das Scharnier zwischen dem Volk und seinen Repräsentanten ist gebrochen; all die Turbulenzen, die das Referendum in der britischen Parteienlandschaft ausgelöst hat, zeugen davon. Die Abgeordneten und ihre Parteien bilden in ihrer jetzigen Formation den Wählerwillen nicht mehr ab. Nur Neuwahlen können dieses Problem lösen. Wenn es also der oberste Wunsch der Briten ist, aus der EU auszuscheiden, dann müssen sie sich ein Parlament wählen, das diesen Wunsch respektiert und in aller Konsequenz umsetzt.

In ihrer Suche nach einer neuen Führung bereiten sich Tories und Labour bereits auf diese Neuwahl vor. Die Liberaldemokraten könnten Nutznießer des Augenblicks sein, Labour könnte sich selbst zerstören. Gemessen an der Bedeutung dieser Entscheidung wären das alles Petitessen. Schlimm wäre es, wenn die Briten jetzt auch noch ihre parlamentarische Demokratie zerstörten.

© SZ vom 29.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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