Großbritannien:Datumsgrenze

Im britischen Parlament wird im Zuge der Brexit-Verhandlungen über den konkreten EU-Austrittszeitpunkt gestritten - und über das ganze Prozedere auch. Abgeordnete, die sich Details des Deals verweigern, werden massiv bedroht.

Von Cathrin Kahlweit, London

"Meuterer" stand auf der Titelseite des Daily Telegraph; daneben die Fotos von 15 konservativen Parlamentsabgeordneten, die sich dem Brexit verweigern würden. Sich dem Brexit zu verweigern, dem die Briten mit 52 zu 48 Prozent zugestimmt hatten, gilt im demokratieerprobten Königreich als ideologisches Kapitalverbrechen. Aber die Parlamentarierin Anna Soubry und eine Reihe weiterer Abgeordneter hatten gar nicht angekündigt, gegen den Austritt aus der EU stimmen zu wollen. Sie halten nur die Festschreibung eines konkreten Datums für den Austritt, genauer gesagt den 29. März 2019 um 23 Uhr britischer, null Uhr mitteleuropäischer Zeit, für einen Fehler.

Eben dies aber hat Theresa May vor wenigen Tagen angekündigt - quasi als Kotau vor den hartleibigen Brexit-Fans und um zu beweisen, dass der Austritt in Stein gemeißelt sei. May will, dass das Datum samt Uhrzeit mit der EU-Withdrawal Bill gekoppelt wird, die seit Montag ausführlich und sehr emotional im Parlament verhandelt wird. Mit diesem Gesetzespaket, dessen mehr als 400 Änderungsanträge die Parlamentarier derzeit durchgehen, soll europäisches Recht in britisches Recht übertragen werden, damit nach dem Brexit kein juristisches Vakuum entsteht. Aber weil noch niemand weiß, wie der Brexit genau aussehen soll, sind wesentliche Details des Mammutwerks umstritten.

Anna Soubry wird wegen ihres Neins massiv bedroht und musste sich sogar an die Polizei wenden

Mit ihrem Nein zu einem konkreten Datum samt Uhrzeit etwa ist Anna Soubry in guter Gesellschaft. Sogar der ehemalige Generalstaatsanwalt Dominic Grieve, der die juristischen Grundlagen für Artikel 50, den Austritts-Artikel, mitdefiniert hatte, hat angekündigt, er werde dagegen stimmen. Gleichwohl sind die "Meuterer"-Schlagzeile und die Reaktionen darauf ein Beleg für die zunehmend aggressive Stimmung im Land. Denn Anna Soubry wird wegen ihres Neins massiv bedroht und musste sich sogar hilfesuchend an die Polizei wenden. Dabei haben sie und ihre Mitstreiter ein gutes Argument: Wenn das Königreich um 23 Uhr am 29. März 2019 austritt, gleichzeitig aber, was die Regierung eigentlich plant, eine Übergangsphase für einen weichen Brexit in Kraft treten sollte, dann wäre London draußen, nur um umgehend wieder europäisches Recht, zumindest in Teilen, in Kraft setzen zu müssen, wenn der Übergang kein Absturz sein soll. Die Idee, den Austritt zu staffeln und so zu erleichtern, wäre damit vom Tisch.

Die Withdrawal Bill ist so komplex, dass auch Juristen ihre Mühe damit haben. Im Wesentlichen geht es darum, dass das Verbindungsglied zwischen der EU und dem Königreich, der European Communities Act (ECA) von 1972, quasi gekappt und EU-Recht, wo es nötig und möglich ist, in britisches Recht umgewandelt wird, um Rechtssicherheit zu erhalten. Das funktioniert nicht mit Copy-and-paste, also eins zu eins, weil das britische Parlament Paragrafen anpassen oder ändern darf; und auch die britische Regierung erhebt Anspruch darauf, mittels historisch verbriefter Durchgriffsrechte, die nach Heinrich VIII. benannt sind, substanzielle Änderungen vornehmen zu können.

Diese "Henry-VIII-Powers" sind bei den Abgeordneten höchst umstritten, genauso wie die Frage, welche Rolle der Europäische Gerichtshof in Zukunft spielen soll, ob und wie die EU-Menschenrechtscharta festgeschrieben wird oder welche Rolle die Abgeordneten ganz zum Schluss haben sollen: Dürfen sie über das Verhandlungsergebnis, das die Regierung vorlegt, abstimmen? Catherine Barnard von der Universität Cambridge ist sicher, dass das letzte Wort über die Withdrawal Bill noch lange nicht gesprochen ist. Sie stellt lakonisch fest, dass es in einer "rationalen Welt" sinnvoller wäre, das Königreich trete erst aus, wenn die Withdrawal Bill im Lichte eines konkreten Deals mit Brüssel ausgearbeitet, die Übergangsphase ausgehandelt und langfristige Handelsabkommen geschlossen seien. Zumal nach dem Brexit, der womöglich gar nicht bis zum 29.3.2019 ausgehandelt sei, auch noch die europäischen Parlamente das Abkommen ratifizieren müssten.

Ein No-Deal, ein Austritt ohne Abkommen, wäre für viele die größte denkbare Katastrophe

Gleichwohl hat Austrittsminister David Davis nun ein zweites Gesetz angekündigt, eine EU-Withdrawal agreement and implementation bill. Damit soll das Parlament das Recht erhalten, über das Ergebnis abzustimmen, das die Regierung mit der EU-Kommission erzielt. Das klingt im Prinzip gut, das Unterhaus besteht auf einer Mitsprache bis zum Schluss. Aber Davis will nur ein Ja oder Nein festschreiben lassen; die Abgeordneten könnten also keine neuen Verhandlungen erzwingen, sondern müssten sich, wenn sie mit dem Deal unzufrieden sind, in ein No-Deal, einen Austritt ohne Deal, fügen - für viele die größte denkbare Katastrophe.

Und dann sind da noch die drei Parlamente in Glasgow, Cardiff und Belfast, die für Schottland, Wales und Nordirland sprechen. Auch die Regionalregierungen wollen gehört werden. Gut möglich, dass die Abgeordneten Theresa May und ihrer Regierung einige empfindliche Niederlagen beibringen.

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