Großbritannien:Attacke aus dem Speisezimmer

Lesezeit: 3 min

London kommt beim Brexit nicht voran - und Außenminister Boris Johnson weiß, wer schuld ist.

Von Cathrin Kahlweit, London

Als Theresa May nach einem Tag voller großer Dramen, dem mühsam abgewendeten Rücktritt des Brexit-Ministers und einem kleinen Sieg über ihre innerparteilichen Gegner in der Nacht zum Freitag in London ins Flugzeug stieg, um zum G7-Gipfel zu fliegen, dachte sie vermutlich, sie würde erst einmal Ruhe haben vom elendigen Brexit-Chaos. Bis zum Dienstag zumindest. Am Dienstag nämlich soll im Parlament der erste große Schlagabtausch zwischen den Abgeordneten und Regierungsvertretern darüber beginnen, wie eine Verhandlungslösung über die künftigen Beziehungen zur EU am Ende aussehen könnte. Mehr als ein Dutzend Abstimmungen über wichtige Details des Austrittsgesetzes sind angesetzt, darunter die Aufforderung an das Kabinett, mit Brüssel über einen Verbleib in der Zollunion oder, eine neue Forderung der Opposition, über eine enge Anbindung an den Binnenmarkt zu verhandeln.

Aber als May ihren Sitz im Flieger zurückklappte und auf ein paar Stunden Schlaf über dem Atlantik hoffte, wusste sie noch nicht, dass ihr schwierigster Kollege, Außenminister Boris Johnson, ihr wieder einmal in die Parade gefahren war. Nach ihrem Abflug war eine Rede bekannt geworden, die Johnson bei einem Dinner vor erzkonservativen Tories gehalten hatte und die, wie so oft im Londoner Politzirkus, der Presse gesteckt wurde. Darin wirft Johnson, selbst Fan eines harten Brexits, der Premierministerin vor, sie verhandele schlecht, und wenn, mal ganz theoretisch, jemand wie US-Präsident Donald Trump den Brexit mit der EU-Kommission ausdealen müsse, wäre das zwar auch chaotisch, aber effizienter. Der Brexit werde kommen, so Johnson, aber womöglich leider so sanft, dass Großbritannien in der "Umlaufbahn der EU" bleibe. Gut möglich auch, dass es zu einer "Kernschmelze" beim Austritt komme.

Johnson hat damit wieder einmal die Lacher auf seiner Seite, weil er so schön unverblümt redet, aber als Minister, der im Zweifel keinen statt einen schlechten Deal favorisiert, hatte er eben auch keine konstruktiven Verhandlungsvorschläge für May auf Lager. Die musste, einmal mehr, die herbe Kritik von Johnson schlucken, wie sie, Stunden zuvor, die Drohung einer Rebellion im Kabinett nur dadurch abwenden konnte, weil sie eine Forderung von Brexit-Minister David Davis hinnahm. Der hatte darauf bestanden, dass in einem Papier, das am Donnerstag nach Brüssel geschickt wurde, ein Zeitlimit für einen sogenannten Backstop eingefügt wird. Dieser Backstop, den ursprünglich die EU-Kommission erfunden und Notfallplan genannt hatte, soll nach der Ende des Jahres 2020 auslaufenden Übergangsphase in Kraft treten, wenn bis dahin für Nordirland keine Lösung gefunden sein sollte, die eine harte Grenze samt Grenzkontrollen verhindert. Nordirland, so die Ursprungs-Idee, soll weiter in einer Zollunion verbleiben, um ein Aufflammen der Konflikte auf der Insel zu vermeiden. Danach wäre die Außengrenze von Großbritannien mit der EU, zumindest handelstechnisch, in der Irischen See gewesen, hätte sich also durch britisches Hoheitsgebiet gezogen. May hatte aber betont, sie werde nichts unterschreiben, was eine Sonderlösung für Irland vorsehe, und sei es als Notfallplan.

Nur: Bisher sieht es nicht so aus, als häten die Briten einen besseren Vorschlag, auf den sie sich mit Brüssel einigen könnten; ohnehin wird gelästert, die Briten verhandelten nicht mit Brüssel, sondern mit sich selbst. Also hat das Kabinett zähneknirschend einen eigene Backstop-Formulierung gefunden. Die geht sogar weiter, als es Brüssel wollte, sie umfasst nun das ganze Königreich, das nun, wenn es keinen entsprechenden Deal gibt, in einer Zollunion verbleiben würde. Wenn auch - das hatte David Davis durchgesetzt, mit Limit. Denn sonst könne man ja gleich den ganzen Brexit absagen. Nun steht in dem Papier, das nach Brüssel geschickt wurde, man "erwarte", dass der Backstop Ende 2021 ausläuft. Was so wachsweich ist wie alles, was aus Downing Street kommt. Die Beschreibung der britischen Verhandlungsposition in britischen Medien lässt sich derzeit kurz zusammenfassen: "Fudge". Das Wort bezeichnet weiche Bonbons, sinngemäß lässt es sich übersetzen mit: Wischiwaschi. EU-Chefverhandler Michel Barnier teilte daraufhin mit, eine "vorübergehende" Lösung, die auch noch auf das ganze Königreich ausgeweitet werde, sei leider mit Brüssel nicht zu machen.

Um dem Fudge ein Ende zu setzen, meldete sich am Freitag die Gruppe "Best for Britain" zu Wort, zu deren Sponsoren der US-Philanthrop George Soros gehört. Deren Chef, Marc Malloch Brown, sagte bei der Vorstellung einer Kampagne für ein zweites Referendum, die herrschende Verwirrung sei der "größte Feind des Brexit". Die Regierung sei zerstritten, Labour abgetaucht, und die Bevölkerung habe den Eindruck: "Wir stecken fest." May müsse mit Brüssel den bestmöglichen Deal aushandeln, diesen dem Parlament vorlegen - und danach dem Volk. Schließlich hätten die Briten ein Recht, abzustimmen, welchen Brexit sie bekommen.

Aber das ist Zukunftsmusik. Erst muss May die nächste Woche im Parlament überstehen. Dessen aktuelle Beschlüsse sind zwar nicht bindend für die Verhandlungen danach. Aber sie sind zumindest konkret.

© SZ vom 09.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: