Großbritannien:Arithmetik des Austritts

Großbritannien: Labour-Chef Jeremy Corbyn zwang seine Abgeordneten, für den Start der Brexit-Verhandlungen zu stimmem - und erzürnt damit weite Teile seiner Partei.

Labour-Chef Jeremy Corbyn zwang seine Abgeordneten, für den Start der Brexit-Verhandlungen zu stimmem - und erzürnt damit weite Teile seiner Partei.

(Foto: AFP)

Die Brexit-Debatte im britischen Parlament zeigt, dass der gespaltenen Labour-Partei die Kraft für effiziente Oppositionspolitik fehlt. Anstatt zu einen, polarisiert ihr Vorsitzender mit autoritären Anordnungen.

Von Christian Zaschke, London

In den großen Debatten ist auf das britische Parlament Verlass. Manchmal geht es im Unterhaus zu wie auf den Tribünen eines Fußballstadions, aber wenn es wirklich wichtig wird, erreichen die Reden ein Niveau, das seinesgleichen sucht. Am Dienstag hat das Unterhaus begonnen, darüber zu debattieren, ob die Regierung Brüssel gemäß Artikel 50 der EU-Verträge über den Austrittswunsch der Briten unterrichten darf. Es ist ziemlich sicher, dass es für das entsprechende Gesetz eine Mehrheit gibt, aber es war eine Gelegenheit, noch einmal die Tragweite der Entscheidung zu erörtern, die EU zu verlassen.

Es ging vergleichsweise fade los: Der für den Brexit zuständige konservative Minister David Davis eröffnete die Sitzung mit einem banalen Statement, woraufhin es dem für den Brexit zuständigen Labour-Schattenminister gelang, ein noch banaleres Statement abzugeben. Das war insofern erstaunlich, als das Thema die große Chance für die Labour-Partei bedeuten könnte, sich als Opposition zu profilieren. Von dieser Chance macht die Partei jedoch bewusst keinen Gebrauch, weil sie Angst vor ihren Wählern hat.

Das hat einiges mit Arithmetik zu tun. Zwar haben sich beim Referendum im vergangenen Juni 65 Prozent der Labour-Anhänger für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Gleichzeitig haben zwei Drittel der von Labour dominierten Wahlkreise für den Austritt gestimmt. Insbesondere im Stammland der Partei in Nordengland votierten die Wähler für den Austritt, weshalb die Labour-Spitze befürchtet, dort massenhaft Sitze an die EU-feindliche UK Independence Party (Ukip) zu verlieren. Ein erster Stimmungstest wird eine Nachwahl in Stoke Ende Februar sein. Labour hält den Sitz dort seit Jahrzehnten, nun aber wird auch der neue Ukip-Chef Paul Nuttall in Stoke antreten. Laut Umfragen hat er gute Chancen zu gewinnen.

Die beste Rede gegen den Brexit hält ausgerechnet ein Mitglied von Mays Konservativen

Die Mehrheit der Labour-Parlamentarier hat erzürnt, dass ihr Chef Jeremy Corbyn bestenfalls halbherzig für den Verbleib in der EU geworben hat. Der Versuch, ihn zu stürzen, scheiterte jedoch, weil die Basis Corbyn mit gewaltiger Mehrheit unterstützt. Der Vorsitzende hat nun bei strengstem Fraktionszwang verfügt, dass seine Partei geschlossen dafür stimmen soll, dass die Regierung die Verhandlungen in Brüssel beginnt. Das führt erneut zu Ärger, da einige Abgeordnete Wahlkreise vertreten, die mehrheitlich für den Verbleib waren. Zwei Mitglieder des Schattenkabinetts sind bereits zurückgetreten, weitere werden wohl folgen. Solange Labour mit internen Querelen dieser Art beschäftigt ist, fällt es der Partei erkennbar schwer, eine wirklich effiziente Opposition zu bilden.

Es mag die mehrheitlich europafreundlichen Labour-Abgeordneten geschmerzt haben, dass die deutlich beste Rede des Dienstags dann von einem Konservativen gehalten wurde. Der 76 Jahre alte Ken Clarke sitzt seit 1970 im Parlament und hat aus seiner Europhilie nie einen Hehl gemacht. Man könnte ihn in der Mitte der Nacht wecken und auf ein Podium setzen, und er würde ansatzlos und ausführlich darüber sprechen, warum Großbritannien in der EU gut aufgehoben ist.

Er ist vielleicht der einzige Konservative, der gegen das Gesetz stimmen wird, das es der Regierung erlaubt, die Austrittsverhandlungen zu beginnen. Das habe nichts damit zu tun, dass er den Willen der Wähler nicht respektiere, sagte Clarke. Er sei nun einmal anderer Überzeugung, und zu dieser Überzeugung stehe er. In den Jahren, in denen eine Mehrheit die Labour-Partei an die Regierung wählte, habe er ja auch nicht deren Überzeugungen übernommen.

Clarke zeigte sich belustigt darüber, dass auch seine vormals EU-freundlichen Kollegen nun mit größtem Eifer für den Austritt seien. Er sagte: "Offenbar folgt man dem Hasen ins Loch und taucht in einem Wunderland wieder auf, in dem plötzlich Länder Schlange stehen, um mit uns Handelsabkommen zu schließen. Nette Männer wie Präsident Trump und Präsident Erdoğan können es kaum erwarten, ihren Protektionismus auszusetzen und uns Zugang zu gewähren." Clarke lächelte. "Lassen Sie mich nicht zu zynisch sein", sagte er, "ich hoffe, dass es stimmt." Als er seine Rede beendet hatte, gab es sogar Applaus. Was sehr ungewöhnlich ist, da das Parlamentsprotokoll Applaus untersagt.

Bis Mitternacht sollte die Debatte am Dienstag laufen, an diesem Mittwoch wird sie fortgesetzt. Gegen Abend ist dann eine Abstimmung angesetzt. In der zweiten Februarhälfte soll sich schließlich das Oberhaus mit dem Gesetz befassen. Dessen Zustimmung vorausgesetzt, könnte die Regierung den Austrittsprozess aus der EU wie geplant bis Ende März offiziell einleiten.

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