Grenzstreit zwischen China und Indien:Kleines Gebiet, große Sprengkraft

30 chinesische Soldaten schlagen auf indischem Terrain ein Lager auf. Dieser kleine Zwischenfall könnte sich zu einer Krise zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Ländern der Welt auswachsen. Delhi fühlt sich von Peking brüskiert.

Von Reymer Klüver

Bisher geht es lediglich um eine kleine, unbewohnte, kaum zugängliche Hochebene inmitten schroffer Gipfel des Himalaja. Und um ein paar chinesische Soldaten, wohl nicht mehr als 30 Mann, die dort in Ladakh, im Grenzland zwischen China und Indien, in windschiefen Zelten ausharren. Doch was sich bislang als ein kleiner Zwischenfall in einem der abgelegensten Winkel der Welt darstellt, könnte sich leicht zu einer schweren Krise zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Ländern der Welt auswachsen, die bereits vor einem halben Jahrhundert einen Krieg um diese unwirtliche Bergregion geführt haben. Schon jetzt sehen Experten den Bergstreit als die ernsthafteste Krise zwischen beiden Ländern seit Ende der Achtzigerjahre an.

Zwar sind beide Seiten erkennbar darum bemüht, die Sache herunterzuspielen: Dennoch unterrichtete Indiens Generalstabschef Bikram Singh das Kabinett am Mittwoch über mögliche militärische Reaktionen auf das, was Indien als eine eindeutige chinesische Provokation ansieht. Und ähnlich wie im Streit zwischen China und Japan, der sich an ein paar Felseneilanden im Ostchinesischen Meer entzündet hat, könnte es auch hier um Rohstoffe, strategische Positionen und - das nicht zu wenig - um nationales Prestige gehen.

Begonnen hatte die Sache vor knapp zwei Wochen, als Indien das kleine Lager von Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee etwa 35 Kilometer südlich des strategisch wichtigen, mehr als 5000 Meter hoch gelegenen Karakorumpasses entdeckte - angeblich 19 Kilometer jenseits der Demarkationslinie, der sogenannten Line of Actual Control (LOC), zwischen beiden Ländern auf dem Gebiet des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir. Die LOC trennt beide Staaten seit ihrem Krieg 1962 auf einer Länge von 4000 Kilometern.

Ihr Verlauf ist bis heute nicht vollständig geklärt. In dem nun umstrittenen Terrain, das bisher nur von Patrouillen zu Fuß kontrolliert wurde, könnte es Uranvorkommen geben. Zudem dürfte das Gebiet strategisch interessant für beide Seiten sein: Für Indien, weil es den Zugang zum Dreiländereck sichert, in dem die Grenzen Indiens, Chinas und Pakistans zusammentreffen. Sollte die Passage durch die Ebene dauerhaft blockiert sein, würde Indien den Zugang zu einer rund 750 Quadratkilometer großen Hochgebirgsregion verlieren. Nicht minder wichtig dürfte die Region für China sein, die von Westen den Zugang zur Unruheprovinz Tibet sichert.

China trägt weitere Konflikte aus

Die Inder lasten den Chinesen die Verantwortung für die Eskalation im Himalaja an. Für sie ist es klar, dass die chinesischen Soldaten mutwillig die LOC überschritten haben. In chinesischen Blogs wiederum ist zu lesen, dass die Armee nur auf das Vorgehen der Inder reagiere, die im Grenzland Straßen, Bunker und Landeplätze ausgebaut habe. Inzwischen hat ein Kontingent indischer Truppen in Schussweite der Chinesen Stellung bezogen. Drei Treffen lokaler Kommandeure beider Seiten verliefen ergebnislos. Eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums räumte "Spannungen" in der Grenzregion ein, leugnete aber, dass chinesische Truppen auf indisches Territorium vorgestoßen seien. Der Zwischenfall werde "Frieden und Ruhe" in der Region nicht stören.

Auch die indische Regierung bemühte sich, die Sache nicht weiter aufzuschaukeln. Außenminister Salman Khurshid hält an einem für kommende Woche geplanten Besuch in Peking fest. Chinas Premier Li Keqiang wird am 20. Mai in Delhi erwartet. Tatsächlich haben sich vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten positiv entwickelt: Das Handelsvolumen ist von 2,9 Milliarden Dollar zur Jahrtausendwende auf mittlerweile 66 Milliarden Dollar gewachsen.

Der Grenzstreit reiht sich indes in eine Serie von Konflikten ein, die China mit seinen Nachbarstaaten zunehmend offensiv austrägt: Nicht nur mit Japan streitet China um Inseln, sondern auch mit den Philippinen, mit Vietnam und seit Neuestem auch mit Malaysia liegt die aufstrebende Macht im Clinch über die Hoheit über Inselgruppen weitab des chinesischen Festlandes.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: