Grenze zum Gaza-Streifen:Der Auszug nach Ägypten

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Freiheit, die nicht lange währt: Ägypten gelingt es nicht, die Grenze zum Gaza-Streifen wieder zu schließen. Von der offenen Grenze profitieren die Händler und die radikale Hamas.

Tomas Avenarius, Rafah

Wie ein Fischtrawler, der sein Schleppnetz durch die Wellen zieht, bugsiert Nessrin durch die schreiende und schwitzende Menge: Vier Kinder an der nach hinten gehaltenen Hand aufgereiht wie an der Leine, in deren Kielwasser läuft auch noch Ehemann Samir - er trägt den Säugling in der Wippe.

Ägyptische Grenzsoldaten blockieren den Palästinensern aus dem Gaza-Streifen den Weg. (Foto: Foto: AP)

Nessrin, ein unbeirrbares Dauerlachen im kugelrunden Gesicht, sagt: "Immer sind wir eingesperrt, es gibt weder Benzin noch Medikamente, es fehlt uns einfach an allem. Aber jetzt gehen wir zu Besuch nach Ägypten. Wir machen einen Ausflug, ein oder zwei Tage."

Nessrin hat ihr mit Pailletten besticktes Gewand an, es ist ein Sonntagsausflug quer durchs Gedränge, drüben in der ägyptischen Stadt El-Arish, lebt ihre Schwiegermutter. Knapp 35 Kilometer sind es bis El-Arish von der Grenzmauer aus, nach dem Nadelöhr der Grenzbresche gibt es hoffentlich Taxis. Nessrins einzige Sorge ist: "Wann machen die Ägypter die Grenze wieder zu? Doch wohl nicht schon morgen?"

Fort Knox in der Wüste

Kurz: Die 30-jährige Palästinenserin aus Rafah und ihre Familie tun, was alle Gaza-Palästinenser in den letzten Tagen getan haben: Sie nehmen sich, was ihnen gehört. Ihre Freiheit.

Schließlich ist der Gaza-Streifen berüchtigt als eine Art Fort Knox im Wüstensand, in dem keine Goldbarren weggeschlossen sind, sondern Menschen. In den letzten Tagen aber war die Gaza-Grenze keine Grenze mehr - sie war so etwas wie ein Ameisenhügel.

Seitdem Militante im Auftrag der radikal-islamischen Hamas die Grenzmauer und die Stahlpalisade am Dienstagabend an zwei Stellen in Stücke gebombt und danach mit Baggern niedergewalzt haben, sind die Gaza-Palästinenser ungehindert nach Ägypten und zurück geströmt. Passende Zahlen zu dem Gewusel gibt es keine. Zwar war die Grenze schon einmal kurz offen, vor zwei Jahren. Nie aber kamen so viele Palästinenser unkontrolliert nach Ägypten.

9. November für die Palästinenser

Gut 250.000 sollen es schon gewesen sein, in diesen Tagen, die für die Palästinenser so etwas sind wie der 9.November für die Deutschen war. Und weil sie alle ausgehungert sind nach sieben Monaten der israelischen Wirtschaftsblockade und es etwa zu kaufen gibt, wurde alles mitgenommen und über die Grenze geschafft.

Die Ägypter bemühten sich mit, mit Ketten schlagstocktragender Polizisten den Grenzverkehr zu kanalisieren. Am Freitagnachmittag waren zunächst zwei Breschen geschlossen, nur an einer dritten Stelle wechselten die Menschen weiter ungehindert hin und her. Dann wurden die Sperren wieder von der Menge überrannt, nachdem ein Bulldozer neue Löcher in die Grenzbefestigungen gerissen hatte, die ägyptische Polizei trat stellenweise sogar den Rückzug an.

Nach Gaza sind in den letzten Tagen Lastwagenladungen voller Zement gegangen, Stahlträger und Baumaterial. Nagelneue Computer wurden auf den Armen über die Grenze getragen, eine schrottreife Waschmaschine thronte auf einer Eselskarre, "auch die bringt bei uns auch ein paar Schekel", wie der Junge am Zügel sagte.

Palästinensische Männer haben Hammelherden vor sich hergetrieben, blökende Kühe durchs Gedränge gescheucht. Ein Stier ging unter Stockschlägen über eine Rampe an der Mauer, ein Kamel stakste und stolperte hinterher, zottelhaarige Hammel wurden am Fell hinüber gereicht wie nasse Säcke. Auch in die andere Richtung herrschte Verkehr - die Richtung, aus der auch Nessrin mit der Familie gekommen ist: Männer und Kinder sind geklettert und gesprungen, voll verschleierte Frauen über Leitern auf die andere Seite gehievt worden. Dazwischen ägyptische Grenzsoldaten, Helm, Schild und Schlagstock, meist übernächtigt, hilflos, resigniert.

Lesen Sie weiter, wer von der Grenzöffnung profitiert und wer verliert.

Auf der ägyptischen Seite herrscht seit Tagen Schlussverkauf: Die Palästinenser, deren Gebiet von den Israelis wegen des anhaltenden Raketenbeschusses Südisraels durch die Hamas und andere Militante fast wasserdicht abgesperrt wurde, haben eingekauft, was einzukaufen ist: Käse, Persil, Tomaten. Mobiltelefone, Computer, Zement.

Billige Motorräder aus China und ölige Ersatzteile für ihre ausgeleierten Mercedes-Taxis. Grellbunte Trainingsanzüge für die Kinder und fassweise Benzin, Diesel, Heizöl. Die einen haben gekauft, was sie brauchen, die anderen haben bei ihren Schnäppchen den Bedarf der anderen eingeplant: Was heute in Ägypten billig gekauft wird, kann in ein paar Tagen teuer weiter verkauft werden - wenn die Grenze wieder dicht ist.

Denn dass der anarchisch-paradiesische Zustand der Freiheit anhalten könnte, daran glaubt im Meer der Grenzgänger und Geschäftemacher von Rafah keiner: "Das geht noch drei, vier Tage, dann sperren die Ägypter wieder zu", so Machmud al-Nada, der neben seinen fünf randvollen Benzinfässern hockt und auf Helfer für den Wechsel nach Gaza wartet. "Danach sitzen wir wieder in unserem Käfig."

Unbrüderliche Preise

Die Läden mit den billigen Waren waren ohnehin schnell so gut wie leer, die geschäftstüchtigeren unter den Einwohnern des ägyptischen Teils von Rafah haben sich eine goldene Nase verdient. So wie Khaled Salah, der in seinem Garagenladen sitzt, rund um sich herum Zementsäcke und Stangen voller Marlboro. "Als die Mauer aufging, habe ich ganz schnell 100 Tonnen Zement bestellt über Bekannte und ein paar Zigaretten."

Auf dem Tisch vor Khaled stapeln sich Bündel mit ägyptischen Pfund, israelischen Schekel, amerikanischen Dollars. Wahrscheinlich könnte bei Khaled einer auch mongolische Tögrög und Möngö hinlegen, solange er nur bezahlt, bar und reichlich. Dass die Preise überhöht sind, dass die angeblichen "arabischen Brüder" auf der palästinensischen Seite von Rafah oft genug das Doppelte bezahlen für die qualitativ schlechten Waren? Geschenkt, sagt Khaled: "Das ist ein schnelles Geschäft. Morgen ist es schon wieder vorbei."

Natürlich ist die Geschichte vom Mauerfall in Gaza weit komplizierter, als es das Freiheitspathos im kugelrunden Gesicht von Nessrin oder die Dollar-Zeichen in Khaleds Augen wiedergeben. Denn der niedergebombte Grenzwall bedeutet einen unerwarteten Sieg für Hamas und möglicherweise sogar ein neues Kapitel im sechs Jahrzehnte alten Palästina-Konflikt: Die offene Gaza-Grenze stärkt ohne Zweifel die radikale Islamisten-Partei, die die Macht im Gaza-Streifen im Juni mit Waffengewalt an sich gerissen hat. Und die Bresche in der Grenzmauer schwächt ebenso zweifelsfrei die Position des friedenswilligen Palästinenserpräsidenten Machmud Abbas - und damit den von den USA erhofften Annapolis-Friedensprozess.

Die von Abbas insgeheim gebilligten Versuche, die Hamas durch die israelische Blockade zum Einlenken zu zwingen, dürften fürs Erste gescheitert sein. Auch wenn die israelische Aushungerungspolitik die Popularität der Islamisten nie wirklich geschädigt hat - nach der Sprengung der Mauer ist Hamas in Gaza - wohl auch bei vielen Palästinensern im von Abbas verwalteten Westjordanland - populärer denn je.

Der Verlierer heißt Ägypten

Damit aber nicht genug des Unerwarteten: Obwohl Israels Regierung die Palästinenser mit ihrer Wirtschaftsblockade und Aushungerungspolitik zur Abkehr von Hamas zwingen wollte, ist der ganz große Verlierer ein Anderer: Ägypten. "Die Ägypter sind die liebenswertesten Menschen, sie helfen uns Palästinensern." Was der vor seinen Benzinfässern hockende Grenzgänger Machmud al-Nada sagt, klingt gut. Es ist aber nur die halbe Wahrheit.

In Wirklichkeit hat der ägyptische Staatschef Hosni Mubarak die Palästinenser nur mit laut knirschenden Zähnen ins Land gelassen - seine Grenzsoldaten waren in den ersten Tagen schlicht nicht in der Lage, den Ansturm aufzuhalten. Mubarak hat notgedrungen eine Rede gehalten, in der er behauptete, Ägypten füttere die hungernden Palästinenser von Herzen gerne. Aber der ägyptische Staatschef hat jetzt nicht nur ein Loch an seiner östlichsten Grenze. Er hat auch ein Problem in Kairo.

Lässt er seine Soldaten die Grenze mit dem Schlagstock oder gar mit Waffengewalt wieder ganz abschließen, werden ihn die eigenen Bürger verdammen - wegen Hartherzigkeit und weil er vor Israel einknicke. "Warum sorgen wir uns mehr um unsere Beziehungen zu Israel als um die Leben der unschuldigen palästinensischen Männer und Frauen, die von den Israelis getötet werden", fragte der Oppositionsabgeordnete Hamdin Sabahi bei einer Demonstration in Kairo. "Was für eine Schande! Wir sollten erröten, weil wir unseren palästinensischen Brüdern nicht helfen."

Mubarak unter Druck

Was in Gaza geschieht, wird immer sehr schnell auch zu ägyptischer Innenpolitik. Und pro-palästinensische Demonstrationen können Mubaraks Polizei und Geheimdienst nicht so leicht unterdrücken wie die einsamen Proteste der demokratischen oder islamistischen Opposition. Ähnliche Vorwürfe wird Mubarak aber auch in der arabischen und islamischen Welt zu hören bekommen, sollte er die Grenze gewaltsam wieder schließen.

Von den anti-westlichen Regierungen in Damaskus und Teheran, die sich bemühen, als die einzigen angeblich ehrlichen Fürsprecher der Palästinenser anerkannt zu werden, braucht keiner zu sprechen: Schüsse an der Grenze wären für sie so herzerwärmend wie das Glockengeläut für einen Katholiken am Ostersonntag. Aber auch in den arabischen Staaten am Golf stehen viele auf Seiten der Palästinenser. Die Könige und Emire mögen mit der Hamas-Regierung dieselben Probleme haben wie Mubarak und auf Machmud Abbas setzten, den palästinensischen Präsidenten ohne echte Prokura. Aber die Menschen in Kuwait-City, Dubai und Dschiddah spenden weiter für die Palästinenser - und oft genug gilt ihre Sympathie der Hamas.

Ein Manöver für die Medien

Und auch die Israelis, mit denen Mubarak einen Friedensvertrag hat, machen dem Ägypter Vorhaltungen. Sie erinnern an die bestehenden Abkommen, wonach Kairo die Grenze sichern muss. Am Ende allerdings kann den Israelis das Durcheinander an der Grenze sogar Recht sein.

Zwar riskieren sie, dass zwischen all den Computern, Ölfässern und Motorrädern auch Waffen nach Gaza hinein geschmuggelt werden. Aber das Chaos von Rafah erlaubt es ihnen auch, laut darüber nachzudenken, welche Konsequenzen der Mauerfall haben wird: "Wenn Gaza auf der anderen Seite offen ist, enthebt uns dies der Verantwortung für Gaza", hat Vize-Verteidigungsminister Matan Vilnai gesagt. "Also wollen wir es nun auch loswerden."

Israel, das sich 2005 aus dem Gaza-Streifen ganz zurückgezogen hat, will die Verantwortung für das unkontrollierbare Palästinensergebiet schon lange loswerden. Jetzt könnte sich Gelegenheit bieten: Mit dem Vorschlag, den Gaza-Streifen fürs Erste von Ägypten verwalten zu lassen. Damit wäre Israel den Gaza-Streifen los - und müsste sich nicht mehr von den Europäern vorhalten lassen, in Gaza mittels der Wirtschaftsblockade "eine Kollektivstrafe" gegen die Palästinenser zu verhängen.

Hamas steckt hinter der Grenzöffnung

Den Schwarzen Peter hat jedenfalls der Ägypter Mubarak. Der Präsident weiß, dass er die Grenze dauerhaft nur mit Hilfe der Hamas gewaltlos wieder schließen und wirksam kontrollieren kann. Die Islamisten haben die Mauer gegen seinen Willen geöffnet - sie können es jederzeit wieder tun. Und auch wenn Hamas es offiziell bestreitet: Daran, dass die für Gaza verantwortlichen Islamisten die Bomben selbst gezündet haben, besteht kein Zweifel.

Sie hätten die Grenzbefestigungen in einer sorgsam geplanten Aktion von angeblich "unabhängigen Militanten" sprengen lassen, wie ein palästinensischer Journalist im palästinensischen Teil von Rafah sagt. "Das mit den Unabhängigen war ein Ablenkungsmanöver für die internationalen Medien. Jeder weiß das in Gaza."

Sogar die Tunnelbauer, die seit Jahren immer neue Stollen unter der Grenze durchtreiben, seien vor einer Woche von Hamas gewarnt worden, ein paar Tage wegzubleiben: Wegen Einsturzgefahr durch Explosionen. "Hamas stand wegen der Blockade stark unter Druck", sagt der Palästinenser. "Jetzt triumphieren sie."

© SZ vom 26.01.2008/maru - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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