Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Wer am Morgen in der S-Bahn zur Arbeit unterwegs ist, sieht Hunderte trostlose Gestalten, die sich knechtisch über ihr Smartphone beugen - ein deprimierender Anblick, der einen für den Rest der Fahrt nur noch ins Laptop starren lässt. Doch manchmal sitzt da auch eine Frau, die vollkommen anders ist, die sich den Teufel um das ganze Twittern und Simsen schert und souverän ihr eigenes Ding macht: Sie schminkt sich. Einen kleinen Spiegel in der Linken haltend, tupft sie Puder aufs Gesicht, zupft mit der Pinzette an den Augenbrauen, dann die Präzisionsarbeit mit Wimperntusche, Lidschattenpinsel und Eyelinerstift, ehe die Lippen zum perfekten Kussmund gefärbt werden. Es mag ein wenig anstößig klingen, aber es hilft nichts, die Wahrheit muss raus: Man kann da nicht wegschauen, man ist förmlich gezwungen zuzusehen, wie sich das morgenmüde Gesicht in ein Idealgemälde verwandelt, gegen das sogar die Mona Lisa verblasst. Aber gehört sich das? Eine Frau beim Schminken zu beobachten, was ja doch eine private, wenn nicht gar intime Betätigung ist? Gleicht das nicht dem verstohlenen und letztlich verwerflichen Blick ins Boudoir?

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