Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Lange gab es ja nichts Glamouröseres, als jemanden abzuholen. Die Leute bahnten sich auf überfüllten Bahnsteigen den Weg zu ihren Liebsten, drückten sich am Flughafen Bruderküsse auf den Mund oder nahmen nach Jahrzehnten ihre besten Freunde am Gefängnistor in Empfang; die Hälfte aller Hollywoodfilme hätte ohne Abholszenen keinen Anfang und kein Ende. Oder man wurde - noch besser - selbst irgendwo abgeholt, dann stieg man aus einem Verkehrsmittel, und draußen warteten schon die Kinder mit Blumen oder zumindest der Taxifahrer vom Intercity Hotel. Allerdings kann man heute keinen Schritt mehr tun, ohne dass man jemanden abholen muss oder selbst abgeholt wird. Das Abholen gilt als Ideal des Miteinanders schlechthin, ständig fordert ein Manager oder ein Talkshow-Gast, eine Kirche oder eine Kanzlerin: "Wir müssen die Menschen abholen." Früher dachte man immer, das Leben sei eine Reise. Heute weiß man: Es ist ein Abholservice.

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