Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Es gibt Dinge, die man sich vorstellt, erträumt und erdenkt, von denen man aber niemanden in Kenntnis setzen möchte, weil sie ein schlechtes Licht auf einen selbst werfen. Ein kleines Beispiel: Man liest einen Zeitungsartikel, gedruckt oder online, und findet in diesem schätzungsweise ein halbes Dutzend Verstöße gegen die Grammatik, die Stilistik, die Rechtschreibung oder überhaupt gegen den guten Lesegeschmack. Und dazu noch einen Sack voll Fremdwörter, die man erst nachschlagen muss, bevor man feststellt, dass der Autor sie auch noch falsch geschrieben hat. Was ist zu tun? Man könnte einen Leserbrief verschicken; aber Leserbriefe klingen dann immer so empört und lassen ihre Absender bestenfalls hilflos zurück, weil sie letztlich doch nicht daran glauben, dass Leserbriefe spracherzieherisch wirken könnten. Die Angst, am Folgetag wieder so einen elenden Text lesen zu müssen, wird jedenfalls durch Leserbriefe nicht geringer. Also stellt man sich vor, also erträumt und erdenkt man sich einen großen, starken Mann, der schlechte Texte mit entschiedener Hand verbietet; einen Grammatik-Diktator, einen autokratischen Stil-Überwacher, einen Orthografie-Caesar, dessen einzige politische Moral die Wiederherstellung der schreiberischen Ordnung ist. Einen Fouché des sprachlichen Ausdrucks, der jeden ins Gefängnis führt, der "zeitgleich" synonym für "gleichzeitig" verwendet.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: