Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Freunde des unverblümten Wortes beklagen ja schon seit Längerem, dass die Wutrede nicht mehr den Platz im offenen Diskurs einnimmt, der ihr seit Karl Kraus, Thomas Bernhard und Giovanni Trapattoni zusteht. Mit der Wutrede ist selbstverständlich nicht das Gekeife der Zukurzgekommenen in den Kommentarspalten der Online-Zeitungen gemeint; diese unterscheiden sich von der großen Wutrede wie der Knallfrosch vom Sektkorken: Der erste explodiert bräsig und ohne Eleganz am Boden, während der Sektkorken im Flug eine wunderbare Parabel beschreibt, welcher zuzuschauen mehr Freude macht, als den oft so labberigen Sekt zu trinken. Aber wer traut es sich heute noch zu, die schöne Geste der Verachtung in Richtung Zeitgeist, Spätmoderne und deren Heiligtümer soziale Medien und Fernsehen zu schleudern? Wer möchte sich dem Protest der Millionen "Tatort"-Gläubigen ausliefern, die sich jeden Sonntag die Depressionszufuhr für die kommende Woche holen, wenn sie alle diese öden ARD-Familienverstrickungen verfolgen, die sich in Leipziger Architektenhäusern abspielen und von gemütskranken Ermittlern entflechtet werden müssen?

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