Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Hamburg und Burlington (Vermont) liegen zeitlich sechs Stunden auseinander. Bei der Zeit weiß man das natürlich. Als einer ihrer Redakteure mal um zwölf Uhr den dort lehrenden Sprichwortforscher Wolfgang Mieder anrief, fragte er ihn in launiger Höflichkeit, ob Morgenstund tatsächlich Gold im Mund habe. Nun ist Mieder keiner, den man erst aufwecken muss, und so antwortete er denn um sechs Uhr Ortszeit, dass zum einen die Morgenstund ursprünglich Brot im Mund gehabt habe und dass man zum anderen heute eher "Der frühe Vogel fängt den Wurm" sage, jedenfalls seit 1987, dem Einwanderungsjahr des an sich englischen Sprichworts. Es gibt außer dem Sprachwandel also auch einen Sprichwörterwandel, und für diesen hat Mieder nun im Gespräch mit der dpa ein paar neue Belege nachgereicht, darunter den famosen Spruch "Shit happens".

Was bedeutet er? In Anlehnung an die da und dort zu lesende Schreibweise "Sh*t happens" könnte man ihn mit "Sch . . . ereignet sich" übersetzen, wäre das nicht, jedenfalls in den Augen jüngerer Sprichwortfreunde, eine besch . . . Feigheit. Seit einigen Jahren ist die Redensart jedenfalls auch hier beheimatet und hat sich derart gut eingelebt, dass Pendants wie "Dumm gelaufen", "So was kommt vor" oder "C'est la vie" zu beißen haben. Die Karriere von "Shit happens" ist umso erstaunlicher, als wir es gewohnt sind, Dingen, die geschehen beziehungsweise sich ereignen, eine zeitliche Dimension zuzuordnen: Da geschah vom Himmel her ein Brausen (Bibel), da war's um ihn geschehn (Goethe). Wie immer man den Shit in seinen anderen, übrigens durchaus interessanten Dimensionen wahrnimmt und definiert, ein Geschehnis im strengen Sinn ist er nicht. Er ereignet sich so wenig wie ein Hut, ein Baum oder ein Waldhorn. Freilich kann man in ihm - die Assoziation liegt ja mehr als nahe - alles geballt sehen, was schief- und unglücklich gelaufen ist, und dann ist "Shit happens" eine in ihrer leicht ordinären Bündigkeit schwer zu übertreffende Beschreibung dessen, was unser Leben bunt und spannend macht.

Wer da glaubt, "Shit happens" sei nur ein banaler Anglizismus, der sollte dessen Doppelbödigkeit anhand der Causa Wolfgang Bernhard nachprüfen. Dieser war bei Daimler-Chrysler ein ziemlich großes Tier, Chief Operating Officer und was nicht noch alles, und sollte Markenchef bei Mercedes-Benz werden. Damals ging es um die Frage, ob Mercedes es sich leisten könne, weitere Milliarden in den notleidenden Zweig Mitsubishi zu stecken. Vorstandsvorsitzender Jürgen Schrempp wollte es drauf ankommen lassen, erlitt jedoch, nicht zuletzt dank Bernhards Widersetzlichkeit, eine Schlappe. "Tja, Jürgen, shit happens", sagte der junge Wilde, ohne zu bedenken, dass ein geschlagener Schrempp immer noch Kraft genug hatte, um ihn vor die Tür zu setzen. So kam es, shit happened.

© SZ vom 18.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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