Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Politisch interessierte Menschen hörten sich in den Achtzigerjahren gerne Direktübertragungen von Debatten im Deutschen Bundestag an. "Direktübertragung" ist ein alter, fast mittelhochdeutscher Begriff für das, was man heute Livestream nennt. Als das Land noch von einer hässlichen Mauer durchzogen war und das Allgemeinwissen des Volkes von Wim Thoelke überprüft wurde, fanden hellwache Menschen in den späten Morgenstunden großen Gefallen an den rhetorischen Ringkämpfen der politischen Klasse. Wem gelangen die anmutigsten Relativsätze - dem vom Gram über das verpatzte Misstrauensvotum veredelten Rainer Barzel oder dem aus dem Misstrauensvotum siegreich hervorgegangenen Willy Brandt? War Ingrid Matthäus-Maier unter ihrer Prinz-Eisenherz-Frisur rhetorisch kampflustiger als die immer leicht leiernde Antje Vollmer? Hatte der elegante Herrenreiter-Ton des Grafen Lambsdorff den höchsten Cicero-Quotienten oder musste man dem jungen Joschka Fischer zugestehen, dass er in der Bundestags-Sprache neue, unerhört freizügige Wege ging? Im Nachhinein sind diese Fragen schwer zu beantworten, auch deshalb, weil sprachliche Finesse, rhetorische Extravaganz und fesselnde Redekunst seit einigen Jahren aus dem Parlament verschwunden sind. Man sieht und hört fast nur noch eine Art unverfängliche Sachverständigen-Prosa, die einiges erklärt, aber wenig bewegt.

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