Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Schwer liegt das Gesetz des Schweigens über der abgeschiedenen Dorfgemeinschaft. Keiner will etwas gehört, keiner das Geringste gesehen haben. Hier oben, in den finsteren Tälern, gelten eigene Gesetze. Und tief unten, in einer Höhle, liegen Knochenreste. Aus dem Höhleneingang taucht der Kopf der jungen, gut aussehenden Forensikerin auf. "Was haben wir?", fragt der mürrische Kommissar. Die junge, gut aussehende Forensikerin referiert: "Tiefe Cranialfrakturen perimortem generiert." "Was?", fragt der mürrische Kommissar. "Das Opfer hat was auf den Schädel bekommen", übersetzt sie, "und zwar volle Lotte." Diese Sprache versteht der Ermittler. Er nickt: "Das heißt: Mord." Die Spusi hat in der Höhle keine Spuren gefunden, außer der DNA einer Siebenschläferfamilie, die jedoch keine polizeilichen Vorerkenntnisse aufweist. Immerhin ist der jungen, gut aussehenden Forensikerin gelungen, die Tatzeit einzugrenzen. Der Erschlagene auf dem Boden der Höhle starb vor etwa 430 000 Jahren, er weist Knochenverletzungen durch einen spitzen Gegenstand auf, eventuell einen Felsbrocken. Für die Tatzeit hat keiner der Dorfbewohner ein Alibi - Zufall?

Ein Mann in modischer Lederjacke tritt an den Tatort. Es ist der berühmte Profiler aus Wien. "Was wissen wir?", fragt er den mürrischen Kommissar, hört der Antwort aber nicht zu. Er scheint mit dem Berg zu sprechen. "Was willst du", murmelt er, "was willst du?" Der Berg aber, der doch alles gesehen hat, antwortet nicht. Vielleicht weiß er, dass er gar nicht gemeint ist. Der berühmte Profiler führt ein inneres Zwiegespräch mit dem unbekannten Täter und dreht sich abrupt zu den Ermittlern um. "Das Böse", sagt er, "hat keine gelben Augen, es trägt kein Kainsmal auf der Stirn." Der Kommissar nutzt diese Erkenntnisse, um den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen: Menschen mit Kainsmal oder gelben Augen müssen bei der Rasterfahndung nicht erfasst werden. Der berühmte Profiler sieht in den Schlund der Höhle hinunter und spricht: "Wenn du zu lange in den Abgrund blickst, dann blickt der Abgrund in dich zurück; das hat Nietzsche gesagt." "Wer?", fragt der Kommissar.

So würde es zugehen, hätte man hierzulande 430 000 Jahre alte Reste von Urmenschen des Typs Homo heidelbergensis entdeckt wie jetzt in Nordspanien. Möglicherweise handelt es sich auch um Proto-Neandertaler. Jedenfalls, einen haben sie "Cranium 17" genannt; er hat Frakturen im Schädel und gilt daher als das älteste bekannte Mordopfer der Geschichte. Falls der Täter in seiner Eigenschaft als Homo heidelbergensis oder Proto-Neandertaler aufgrund seiner erheblich eingeschränkten Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit überhaupt straffähig im Sinne des Gesetzes ist. Aber für niedere Motive braucht es nicht viel Verstand. Der Mensch ist ein Abgrund.

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