Global-Betrachtung:1946 - ein düsteres Jahr nach dunkler Zeit

Operation Crossroads am 25. Juli 1946

Atombombentest auf dem Bikini-Atoll am 25. Juli 1946.

(Foto: United States Department of Defense)

Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, der Kalte Krieg beginnt: Victor Sebestyen seziert 1946 aus verschiedenen Blickwinkeln auf verschiedenen Kontinenten - das ist ziemlich spannend.

Rezension von Robert Probst

Für das Time-Magazin war James F. Byrnes der Mann des Jahres. Nach Meinung der Redaktion hatte er den größten Einfluss auf die Weltpolitik ausgeübt.

Unter anderem hatte der US-Politiker am 6. September im Großen Haus des Württembergischen Staatstheaters eine Rede gehalten, die schon bald als Sensation gefeiert wurde.

Zum ersten Mal nach der Niederlage des NS-Regimes war ein Außenminister der Alliierten ins zerbombte Deutschland gereist, und er hatte seine Ansprache mit den Worten beschlossen: "Das amerikanische Volk wünscht, dem deutschen Volk die Regierung zurückzugeben. Das amerikanische Volk will dem deutschen Volk helfen, seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedlichen Nationen der Welt."

Eine Rede in Stuttgart als Neubeginn

Nicht von Vergeltung war darin die Rede ("Wir werden uns gegen zu harte und von Rachsucht diktierte Maßnahmen wenden, die einem wirklichen Frieden im Wege stehen"), sondern von einem Neubeginn der Beziehungen zwischen Siegern und Besiegten.

Als "Speech of Hope" ging der Auftritt von Stuttgart in die Geschichtsbücher der Deutschen ein, wo sie auch heute noch als Markstein das Jahres 1946 gefeiert wird.

Bei Victor Sebestyen kommt James F. Byrnes auch vor, etwa als Empfänger eines Briefes von Harry S. Truman im Januar 1946. Darin schreibt der US-Präsident: "Ich glaube, wir sollten uns jetzt auf keine Kompromisse mehr einlassen. Ich habe es satt, die Sowjets mit Samthandschuhen anzufassen." Was dagegen nicht vorkommt, ist die "Rede der Hoffnung".

Das mag auf den ersten Blick verwundern - aber genau an diesem Punkt lässt sich festmachen, was das seitenstarke Werk des in Ungarn geborenen und in London lebenden Journalisten und Historikers Sebesteyn von anderen Büchern unterscheidet: Es geht hier um einen pessimistischen Ansatz der Geschichtsdeutung - und es geht weder um den deutschen Blick auf die Ereignisse von vor 70 Jahren, noch einen dezidiert europäischen. Hier gerät die ganze Welt in den Fokus - und das ist ziemlich spannend.

Nun sind Monografien über einzelne "Schicksalsjahre" zu passenden runden Jubiläen - zuletzt war 1914 an der Reihe, noch in diesem Frühjahr folgt 1956 - seit einiger Zeit durchaus in Mode, das muss aber nicht gegen den Ansatz sprechen. Ganz im Gegenteil.

"1946. Das Jahr, in dem die Welt neu entstand" nimmt den Leser mit auf eine rastlose Reise quer über fast alle Kontinente, führt ihn zu zahllosen Konfliktherden und zu schillernden Persönlichkeiten, die das Heft des Handels ganz nach dem Motto "Männer machen Geschichte" fest in der Hand zu halten glaubten. Und immer mit dabei: das "Schreckgespenst", wie es Sebestyen nennt: die weitverbreitete Angst, dass es zu einem neuen globalen Krieg kommen könnte.

Keine "Stunde null" - denn Krieg und Verfolgung gingen weiter

Nichts ist in dem Buch zu spüren von der viel beschworenen, hoffnungsvollen "Stunde null" nach der deutschen Kapitulation und dem Menschheitsverbrechen des Holocaust. Immerhin: Die NS-Herrschaft war gebrochen und die deutsche Staatsordnung zerfallen.

Nicht zu Ende waren dagegen Krieg, Terror und Verfolgung - und dazu muss man den Blick gar nicht allzu sehr weiten. So erinnert Sebestyen etwa an den Judenpogrom in der polnischen Stadt Kielce von Juli 1946, an Zehntausende in Europa herumirrende jüdische Displaced Persons und den weitverbreiteten Antisemitismus bis hinauf zum US-Präsidenten.

Mao Zedong und Chiang Kai-shek, 1946

Mao Zedong (l.) und Chiang Kai-shek auf einer Festveranstaltung in Chungkin.

(Foto: UPI)

Auch die anderen Themen sind düster: ethnische Konflikte, Flüchtlingsmassen, Hungersnöte, politische Ränkespiele, ideologische Zwistigkeiten, die Jagd der Sowjets nach der Atombombe ... Von Hoffnung auf einen Neubeginn nach Millionen Toten und einem mehr als fünf Jahre dauernden Weltkrieg: hier keine Spur.

Der Newsweek-Journalist springt dabei, halbwegs chronologisch, Kapitel für Kapitel zu neuen Schauplätzen: dem Bürgerkrieg in China zwischen den Nationalisten um Chiang Kai-shek und den Kommunisten unter Mao Zedong, zum Konflikt zwischen Hindus und Muslimen in Indien (was später zur Gründung Pakistans führte), zu den gewalttätigen Wirren in Palästina vor der Entstehung des Staats Israel, zum griechischen Bürgerkrieg, zum darniederliegenden Japan, oder nach Osteuropa, das sich dem Zugriff aus Moskau ausgesetzt sah.

Im Mittelpunkt all dieser Betrachtungen steht aber natürlicherweise die Herausbildung der beiden Weltmächte USA und Sowjetunion, die Abkehr vom gemeinsamen Handeln als "die Alliierten", vom Abstecken eigener Interessensphären, der Verbreitung der jeweils eigenen Ideologie und der Demonstration militärischer Stärke.

Dafür reichte sogar ein dilettantischer Putschversuch in einer nordiranischen Provinz - und schon standen Moskau und Washington bereit. Sebestyen beschreibt das Heraufziehen des "Kalten Krieges" als ein faszinierendes Geflecht von Provokationen, Aktionen und Reaktionen in den Hauptstädten von Ost und West.

Dass seine Sympathien dabei nicht bei Stalin und seinen Genossen liegen, daran lässt Sebestyen keinen Zweifel, das bedeutet aber keineswegs, das für ihn die Amerikaner alles richtig gemacht hätten. Eine etwas bizarre Rollen spielen die Briten: Die scheinen in dem Jahr vor allem von der Ratlosigkeit befallen gewesen zu sein, wie sie möglichst ohne Ansehensverlust Abschied von ihren Problem-Empire-Gebieten (Indien, Palästina) nehmen konnten. Deutsche Politiker als aktiv Handelnde gibt es nur am Rande.

Atemlos von Schauplatz zu Schauplatz, von Kontinent zu Kontinent

Dem Fachhistoriker werden all diese Schauplätze wohl bekannt sein, dem Kenner die Schilderung bestimmter Sachverhalte sehr, sehr oberflächlich vorkommen, und Handlungsanweisungen für heutige Konflikte - viele wie die im Nahen Osten oder auch in Südostasien sind immer noch virulent - lassen sich auch nicht ableiten.

Kritiker könnten zudem einwenden, dass oft statt der tiefenscharfen Analyse dem reportagenhaften Element, ja oft der Anekdote der Vorzug gewährt wird. Doch solche Anekdoten sind nicht um ihrer selbst willen beschrieben oder gar, um den Leser zu erheitern. (Nichts ist heiter in diesem Buch, oft muss man sich angesichts der unverblümten Sprache der damaligen Zeit gar verwundert die Augen reiben.)

1946

Victor Sebestyen, 1946. Das Jahr, in dem die Welt neu entstand. Rowohlt 2015, 539 Seiten, 26,95 Euro. Als E-Book: 23,99 Euro

Sie veranschaulichen fast immer auf oft groteske Weise die Konfliktlinien, sie decken die Widersprüche auf, in die sich die Protagonisten verwickeln, und sie zeigen auf fast groteske Weise, wie unterschiedlich sich etwa US-Oberste in Ländern verhielten, die ihnen gänzlich fremd waren (etwa General Douglas MacArthur als wahrer "Herrscher" von Japan oder General Georg Marshall als gescheiterter Friedensbotschafter in China). Hier wird mit dickem Pinsel gemalt, hier werden skurrile Figuren noch skurriler überzeichnet, hier wird Geschichte lebendig.

Die Nachteile bei der Betrachtung eines abgeschlossenen Jahres liegen aber natürlich auch auf der Hand: viele Konflikte und Streitthemen enden nicht am 31. Dezember, sondern entwickeln sich weiter oder ganz anders als gedacht, manches kommt neu hinzu - etwa der Marshallplan zum Wiederaufbau Westdeutschlands 1948 -, was die Situation ganz grundsätzlich zum Positiven verändert.

Das Gefühl, der Apokalypse entgegenzugehen

Und manches muss fast unerwähnt bleiben, weil es erst später passierte, aber das Gefühl, der Apokalypse entgegenzugehen, noch verstärkte - in dem Fall etwa der brutale Hungerwinter 1946/47 in Europa.

Da hätten wohl viele dem Berater von Präsident Truman, Dean Acheson, zugestimmt, der das Jahr so bilanzierte: "Es herrscht eine Situation in der Welt, sehr deutlich illustriert in Europa, aber auch in Fernost anzutreffen, die alle Grundlagen bedroht, die gesamte Struktur der Weltorganisation, so wie wir sie zu unseren Lebzeiten gekannt haben und wie sie auch unsere Väter und Großväter gekannt haben."

So schlimm kam es dann bekanntlich nicht - vielleicht ein Trost für all diejenigen, die Achesons Worte gleich auf die derzeitige Weltlage anwenden wollen.

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