Proteste rund um Taksim-Platz:Machtkampf in der Türkei spitzt sich zu

Demonstrationen in Istanbul

Istanbul: Auch in der Nacht ist es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den regierungskritischen Demonstranten und der türkischen Polizei gekommen.

(Foto: REUTERS)

Auch in der Nacht ist die türkische Polizei wieder gewaltsam gegen die regierungskritischen Demonstranten vorgegangen. Am Abend hatte Ministerpräsident Erdogan mehr als hunderttausend jubelnde Anhänger für eine Rede mobilisiert. Die Protestbewegung gibt sich nicht geschlagen, zwei Gewerkschaftsverbände haben zum Generalstreik aufgerufen.

Von Jannis Brühl

In der Türkei ist die Polizei Berichten zufolge auch in der Nacht zum Montag wieder gewaltsam gegen regierungskritische Demonstranten vorgegangen. In Ankara setzten die Sicherheitskräfte Wasserwerfer und Tränengas gegen Gegner der islamisch-konservative Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ein, wie Aktivisten mitteilten. In Istanbul habe die Polizei Demonstranten gewaltsam daran gehindert, zum zentralen Taksim-Platz zu ziehen, hieß es. Auch sollen erstmals Erdogan-Anhänger Demonstranten attackiert habe. Zwei Gewerkschaftsverbände riefen aus Protest für Montag zu landesweiten Streiks auf.

Vor Tausenden Anhängern hatte Ministerpräsident Erdogan zuvor die Protestbewegung als "Terroristen" und "Gesindel" verunglimpft. Der Chef hatte gerufen und alle waren sie gekommen. In Booten, in Bussen und zu Fuß. In Istanbul hat der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan am Sonntag mehr als hunderttausend Anhänger für seine Rede mobilisiert. Erdogans Regierungspartei AKP versucht mit der gigantischen Demonstration Stärke zu zeigen. Stärke gegen die Protestierenden, die zeitgleich wenige Kilometer entfernt versuchen, den am Tag zuvor von der Polizei brutal geräumten und abgeriegelten Taksim-Platz zu besetzen. Mit so vielen Menschen aus beiden Lagern auf den Straßen, stand Istanbul eine weitere explosive Nacht bevor.

Die AKP-Versammlung sollte den wahren "Willen des Volkes" zeigen: Dass die Mehrheit im Land zu Erdogan steht und es nur eine radikale Minderheit ist, die seinen Regierungsstil als autokratisch ablehnt.

Ausländische Medien waren Erdogans Hauptziel für Kritik

Supporters of PM Erdogan's ruling AK party arrive by boat for a rally in Istanbul

Erdogans Unterstützer kommen mit dem Boot in Istanbul an.

(Foto: REUTERS)

Die Demonstranten im Gezi-Park beschimpfte Erdogan als "Terroristen" und "Gesindel". Er wies auch Kritik des Europa-Parlaments an den harten Einsätzen der Polizei zurück: "Es gab auch in Frankreich, Deutschland und Großbritannien viel Gewalt gegen Protestierende, was habt Ihr dagegen getan?"

Die Räumung des Gezi-Parks verteidigte er damit, dass der Platz nicht einer einzelnen Gruppe, sondern allen Bewohnern Istanbuls gehöre. "Die Stadtverwaltung hat den Platz gesäubert, pflanzt jetzt Blumen und begrünt ihn. Die wahren Umweltschützer sind jetzt am Werk."

Mit Blick auf seine jubelnden Anhänger sagte Erdogan: "Diese Hunderttausend Menschen haben nichts verbrannt oder zerstört; diese Hunderttausenden Menschen sind keine Verräter, wie die, die Molotow-Cocktails auf meine Leute geworfen haben." Die Nachrichtenseite Hürriyet Daily News zitiert ihn weiter: "Wenn die Internationalen Medien ein Bild der Türkei haben wollen: das Bild ist hier." Er meinte das Meer aus türkischen und AKP-Flaggen vor ihm.

Ausländische Medien waren - neben sozialen Online-Netzwerken - an diesem Sonntag das Hauptziel Erdogans. Er behauptete, die britische BBC, der US-Nachrichtensender CNN und die Nachrichtenagentur Reuters betrieben Desinformation. Mehrere türkische Medien waren von der Gezi-Park-Protestbewegung kritisiert worden, weil sie kaum über das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen demonstrierende Regierungsgegner berichtet hatten. In der Türkei sitzen der Organisation Reporter ohne Grenzen zufolge weltweit die meisten Journalisten im Gefängnis.

Erdogan vergewissert sich also hunderttausendfach der Unterstützung seiner Anhänger. Doch Erdogans Gegner versuchen dagegenzuhalten. Während der Premier spricht, versammeln sich Zehntausende, um gegen Mann zu protestieren, den sie als Diktator schmähen. Nach einem Aufruf der Protestbewegung drängen die Demonstranten aus umliegenden Stadtvierteln zum Taksim-Platz, den die Polizei nach der Räumung des anliegenden Gezi-Parks abgeriegelt hat. In mehreren Vierteln gab es heftige Zusammenstöße der Demonstranten mit der Polizei. In einer Straße, die zum Taksim führt, versuchte die Polizei stundenlang, tausende Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas zu vertreiben.

"Überall ist Taksim, überall ist Widerstand"

Die Demonstranten riefen: "Überall ist Taksim, überall ist Widerstand." Auch tausende Fußballfans schlossen sich den Protesten an, die von Besiktas aus zum Taksim-Platz gelangen wollten.

Bei der Räumung des Zeltlagers der Erdogan-Gegner hatte es in der Nacht zum Sonntag Dutzende Verletzte gegeben, möglicherweise auch mehr. Die Angaben schwanken je nach Quelle. Das Taksim-Bündnis der Demonstranten spricht von Hunderten, Istanbuls Gouverneur von 44. Insgesamt wurden in den Zusammenstößen der vergangenen zwei Wochen nach Angaben des Ärzteverbandes vier Menschen getötet und etwa 5000 weitere verletzt.

Nach der gewaltsamen Räumung von Gezi und Taksim riefen zwei der größten Gewerkschaften für Montag zu einem landesweiten Generalstreik wegen der Polizeigewalt auf. "Wir werden morgen gemeinsam mit der Gewerkschaft DISK und anderen Berufsorganisationen die Arbeit niederlegen", sagte der Sprecher der Gewerkschaft KESK.

Anhänger der islamisch-konservativen Regierung sollen am Sonntagabend in Istanbul erstmals Demonstranten und ein Büro der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) attackiert haben. Eine Gruppe junger Männer habe das Büro in Sishane, etwa zwei Kilometer vom Taksim-Platz entfernt, mit Stöcken attackiert, berichteten türkische Medien. Sie hätten Slogans für Erdogan gerufen. Aktivisten der Opposition berichteten unabhängig davon im Internet, mit Knüppeln und Messern bewaffnete Männer hätten einige hundert Meter entfernt Demonstranten angegriffen. Die Polizei habe sie gewähren lassen.

Mit Material von dpa und AFP

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