Gesundheitsreform in den USA:Obamas Gegenangriff

Im Streit um die Gesundheitsreform hat Präsident Obama zu seiner effektivsten Waffe gegriffen: Er hat eine Rede gehalten. Damit hat er die Hoheit über die Debatte zurückgewonnen.

Moritz Koch, New York

Das Hohe Haus muss warten. Senatoren, Kongressabgeordnete, Minister und Ehrengäste haben sich erhoben und verdrehen die Köpfe, doch Barack Obama suchen sie vergeblich. Erst mit zehn Minuten Verspätung hallt es durch den Raum: "Madam Speaker: The President of the United States."

Gesundheitsreform in den USA: US-Präsident Obama versucht, den Kongress auf seine Seite zu ziehen.

US-Präsident Obama versucht, den Kongress auf seine Seite zu ziehen.

(Foto: Foto: AP)

Obama betritt den Saal. Er schreitet zum Podium und beginnt eine Rede, die Kommentatoren später die beste seiner Präsidentschaft nennen werden.

Das letzte Mal, dass Obama vor dem Kongress sprach, war im Februar, wenige Wochen nach seinem Amtsantritt. Damals raste das Land auf den Abgrund zu, den die Finanzkrise aufgerissen hatte. Obama erinnert gleich zu Beginn seiner Rede an die Dramatik der vergangenen acht Monate. "Wir haben das Land von diesem Abgrund fortgezogen", sagt er.

Doch lange will sich der Präsident nicht aufhalten mit dem, was war. Er will darüber sprechen, was werden soll. Er will das Kernstück seiner politischen Agenda erklären: die Gesundheitsreform. Und er will die Hoheit über eine Debatte zurückgewinnen, die ihm in den vergangenen Monaten entglitten ist. "Ich bin nicht der erste Präsident, der sich dieser Sache angenommen hat", sagt er, "aber ich bin entschlossen, der letzte zu sein."

Es ist ein mitreißender Beginn. Obama versprüht Tatendrang, keine Spur von der Teilnahmslosigkeit, der Entrücktheit, die seine Auftritte kurz vor der Sommerpause prägten. Oder doch?

Plötzlich scheint es, als würde Obama die alten Fehler wiederholen. Er hangelt sich an Statistiken entlang. Er reiht Fakten aneinander. Er doziert. "30 Millionen Amerikaner haben keine Versicherung. 14.000 Amerikaner verlieren täglich ihre Versicherung."

Das mag noch verständlich sein, auch wenn die Dimensionen der amerikanischen Gesundheitskrise in Zahlen kaum fassbar sind. Aber was will Obama mit diesem Satz sagen? "Einer von drei Amerikanern büßt seinen Versicherungsschutz irgendwann in einer Zwei-Jahres-Periode ein."

Zum Glück für die Demokraten bleibt es die einzige Stelle, in der Obama Rätsel aufgibt. Er reißt das Ruder herum, indem er die Geschichte des Mannes erzählt, der inmitten einer Krebstherapie seinen Versicherungsschutz verlor, weil er seiner Versicherung Gallensteine nicht gemeldet hatte, von denen er nichts wusste, und die Geschichte der Frau, deren Brustkrebs sich verdoppelte, während sie mit ihrer Versicherungsfirma darüber stritt, ob sie ihr von ihrer verheilten Akne hätte berichten müssen.

Mit einer Entschlossenheit, die seine Anhänger zuletzt so schmerzlich vermisst hatten, ruft Obama: "Das ist herzzerreißend, es ist falsch und niemand sollte so behandelt werden in den Vereinigten Staaten von Amerika." Die Parlamentarier erheben sich und klatschen, nein, sie jubeln.

Der Präsident weiß, dass er Boden gutmachen muss. Das Weiße Haus hat die Kampfeslust der Opposition unterschätzt. Obamas Strategen dachten, dass die Republikaner auf absehbare Zeit mit sich selbst beschäftigt sein würden. Doch die Konservativen haben den parteiinternen Machtkampf erstaunlich schnell beigelegt. Die Fähigkeit der Republikaner, das Thema Gesundheitspolitik zu emotionalisieren, es als Prisma zu nutzen, um all die Vorbehalte gegen einen jungen, liberalen, und ja, einen schwarzen Präsidenten zu bündeln: Diese Fähigkeit hat die Demokraten überrumpelt.

In den vergangenen Wochen machten nicht mehr Reformvorschläge Schlagzeilen, sondern bösartige Anschuldigungen. Anschuldigungen wie jene, die Sarah Palin, die Ex-Gouverneurin von Alaska und im Herbst 2008 republikanische Kandidatin für das Amt des Vizepräsidenten, vor Obamas Rede wiederholte: Der Präsident, schrieb Palin am Mittwoch im Wall Street Journal, wolle Scharfrichter einberufen, die über Leben und Tod von Senioren entscheiden sollten.

Obama zeigt sich kampfbereit

Von solchen Tiefschlägen in die Defensive gedrängt, sehnten sich die Demokraten nach einem Gegenangriff. Am Mittwochabend bekamen sie ihn. In seiner Rede geht Obama seine Kritikerin direkt an, wenngleich er ihren Namen nicht erwärt. "Ein solcher Vorwurf wäre lächerlich", sagt er, "wenn er nicht so zynisch und unverantwortlich wäre. Es ist eine Lüge, ganz einfach."

Wie verbissen die Debatte geführt wird, zeigt sich, als Obama damit fortfährt, die Anschuldigung zurückzuweisen, er wolle illegale Immigranten versichern: "Die Reformen, die ich vorschlage, schließen die, die illegal hier sind, nicht ein", beteuert er. Obama hat seinen Satz kaum vollendet, da schleudert ihm der republikanische Abgeordnete Joe Wilson entgegen: "Sie lügen!"

"Der Charakter unseres Landes"

Solche Respektlosigkeiten sind selten, wenn der Präsident im Kongress spricht. Selbst Republikaner zeigten sich nach der Rede kleinlaut ob der Einlassung Wilsons und äußerten sich kritisch.

Obamas Stimme hebt sich mehr und mehr. Sie donnert, als er das Parlament ermahnt: "Die Zeit für Zänkereien ist vorbei. Die Zeit für Spielchen ist verstrichen." Jetzt gelte es die besten Ideen beider Parteien zusammenzubringen und den Bürgern zu zeigen, dass Washington seine Arbeit machen kann.

Obama macht den Republikanern ein Angebot. Seine Tür sei offen für jeden, der eine ernsthafte Debatte führen wolle. Aber er schickt eine Warnung hinterher: Er werde jeden, der Lügen und Schauermärchen verbreitet, öffentlich bloßstellen.

Keine zehn Cent

Und schließlich macht Obama eine Versprechung, die in den kommenden Tagen noch viel diskutiert werden wird: "Ich werde kein Gesetz unterschreiben, das auch nur zehn Cent zu unserem Defizit hinzuaddiert. Punkt." Der Präsident weiß, dass viele unabhängige Wähler fürchten, dass seine Reform zu teuer werden wird. Schon jetzt geben die Amerikaner für ihr Gesundheitssystem ein Sechstel ihres Sozialprodukts aus.

Obama will beruhigen. Er strebt keinen Systemwechsel an, keinen Bruch. Er will "darauf bauen, was funktioniert und reparieren, was nicht funktioniert". Diese Ausgeglichenheit ist in seiner politischen DNS gespeichert. Obama ist ein Pragmatiker, kein Ideologe.

Am Ende seiner Rede trägt der Präsident Passagen aus einem Brief vor, den ihm Senator Ted Kennedy geschrieben hat, nachdem dieser im Mai von seiner tödlichen Krankheit erfahren hatte. Kennedy spürte, dass die Reform, für die er sein Leben lang gekämpft hatte, zum Greifen nah war. Aber er wusste, dass er den Moment nicht mehr erleben würde, wenn sein großer Traum von einem Amerika mit einem funktionsfähigen Gesundheitssystem wahr werden würde.

Großherzigkeit als amerikanisches Gefühl

"Womit wir konfrontiert sind", schrieb Kennedy in seinem Brief, "ist in erster Linie eine moralische Frage; auf dem Spiel stehen nicht Details der Alltagspolitik, sondern fundamentale Prinzipien von sozialer Gerechtigkeit und der Charakter unseren Landes."

Für den Bruchteil einer Sekunde ringt Obama um Fassung, dann sagt er, er habe in den vergangenen Tagen viel über diese Formulierung nachgedacht. "Der Charakter unseres Landes." Er spricht über die Freiheitsliebe, die Selbständigkeit und den Individualismus der Amerikaner, über Werte, die traditionell mit Amerika verbunden werden.

Dann kommt der vielleicht entscheidende Satz seiner Rede. "Großherzigkeit - die Sorge und Rücksicht auf das Leid der anderen - ist kein parteiisches Gefühl. Es ist kein republikanisches oder demokratisches Gefühl. Es ist ebenfalls Teil des amerikanischen Charakters." In diesem Moment ist er wieder da: Obama, der Versöhner, der Mann, der die Wahl mit dem Versprechen gewonnen hat, Amerika zu einen.

Im Fernsehen sind sich die Experten einig: Der Präsident hat eine famose Ansprache erhalten, er hat die Debattenhoheit über seine Reformpolitik zurückerlangt. Zwar ist fraglich, ob seine Rede die Republikaner aus ihren politischen Gräben locken wird. In jedem Fall aber wird sie den Demokraten Kraft für die kommenden Wochen geben, in denen sich das Schicksal des Gesundheitssystems entscheiden wird.

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