Gesundheit:Verwirrt in Berlin

Etwa 22 Stunden am Stück haben die Großkoalitionäre verhandelt. Aus medizinischer Sicht ist das keine Heldentat.

Von Werner Bartens

Vielleicht sollte beim nächsten Verhandlungsmarathon ein Mannschaftsarzt anwesend sein - eine Art Müller-Wohlfahrt der Politik. Der sprintet sofort los, wenn um vier Uhr nachts ein Politiker zusammensackt, und leistet Erste Hilfe. Es gehört ja inzwischen zur Folklore von Koalitionsgesprächen, Schlichtungen und anderen langwierigen Verhandlungen, das zähe Ringen um die Sache mit Ringen unter den Augen zu beglaubigen. Wer im nächtlichen Machtkampf aufgeweckt seine Position vertritt, während die Kontrahenten wegdösen, verschafft sich womöglich den entscheidenden Vorsprung.

Etwa 22 Stunden am Stück haben die Großkoalitionäre am Dienstag und Mittwoch verhandelt, bis sie ungeduscht die Einigung verkündeten. Aus medizinischer Sicht ist das keine Heldentat. "Gesund ist das sicher nicht und für die inhaltliche Substanz auch nicht förderlich", sagt Peter Geisler, Leiter des Schlaflabors an der Universität Regensburg. "Bei Schlafentzug lassen Konzentration und strategisches Denken zuerst nach - rumsitzen und die Augen offen halten kann man hingegen noch länger."

Schlafmangel ist ungesund, der Blutdruck steigt, die Immunabwehr schwächelt, der Stoffwechsel gerät durcheinander, und das Gedächtnis leidet. "Schlafentzug macht dumm, dick und krank", wie es Schlafforscher Jürgen Zulley auf den Punkt bringt. Auch der Kampf gegen die Übermüdung mit Kaffee, Tabak und anderen Stimulanzien unterstützt nicht gerade einen gesunden Lebensstil.

Allerdings ist es eine Legende und nicht seriös belegt, dass chronischer Schlafentzug für Menschen tödlich ist. Angeblich soll König Perseus von Makedonien um 212 vor Christus gestorben sein, weil man ihn als Gefangenen in Rom immer wieder am Einschlafen hinderte. Seit der Antike ist Schlafentzug - bevorzugt mit Licht, Lärm und Gewalt - als Foltermethode beliebt; die Marter des Wachseins soll Geständnisse erzwingen.

Aus Tierexperimenten ist hingegen durchaus bekannt, dass Schlafmangel auf Dauer das Leben kostet. Mäuse und Ratten wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren fortwährend wachgehalten, nach einigen Tagen brach ihr Immunsystem zusammen, und die Energiebilanz spielte verrückt. Die Nager entwickelten rasch Tumore und Hautläsionen. Sie fraßen deutlich mehr als zuvor, verloren aber trotzdem an Gewicht, bis sie schließlich krank und entkräftet starben.

Vielleicht waren die durchgemachten Nächte in Berlin durchaus so geplant - damit das Land endlich eine handlungsfähige Regierung bekommt. "Grundsätzlich lehne ich Nachtsitzungen ab, weil die Leistungsfähigkeit nachlässt", sagt Schlafforscher Zulley. "Aber da Schlafmangel die Kompromissbereitschaft erhöht, da man die Sache nur zu Ende bringen will, war das womöglich doch eine gute Idee."

Augen zu und durch, eine Koalition im Delirium, die gereizt wartet, endlich ins Bett zu kommen? "Wer nicht schläft, fängt an zu halluzinieren und kann im Stehen, Sitzen oder Gehen einschlafen. Die Bewegungssteuerung funktioniert weiter", sagt Schlafforscher Geisler. Was für eine Vorstellung: Die Führung des Landes entwickelt im Morgengrauen sonderbare Ideen, und alle nicken nur noch automatisch vor sich hin.

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