Gespräch mit Ulrich Beck:"Europa ist in großer Gefahr"

Eine Mahnung vor der Wahl: Ulrich Beck, einer der bedeutendsten deutschen Intellektuellen, warnt im Gespräch mit sueddeutsche.de vor neuen Gefahren für Europa. Die EU gleiche "einer älteren Dame ohne Namen" - ein EU-Beitritt der Türkei sei eine Bereicherung.

Peter Lindner

Ulrich Beck ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Außerdem lehrt der 65-Jährige an der London School of Economics and Political Science. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschen Intellektuellen. Sein Werk "Risikogesellschaft" wurde mittlerweile in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Mit Europa beschäftigt er sich seit vielen Jahren intensiv.

Gespräch mit Ulrich Beck: Wirbt für ein kosmopolitisches Europa: Ulrich Beck.

Wirbt für ein kosmopolitisches Europa: Ulrich Beck.

(Foto: Foto: Robert Haas)

sueddeutsche.de: Herr Beck, Sie haben Europa einmal als Wunder bezeichnet. Glauben Sie noch immer an dieses Wunder?

Beck: Aber ja. Sehen Sie sich die Entwicklung Europas in den vergangenen Jahrzehnten an: Innerhalb kurzer Zeit sind aus Feinden Nachbarn geworden. Das war in der europäischen Geschichte, die geprägt ist von Kriegen, lange Zeit völlig undenkbar. Erst durch die spezifische Gestalt, die Europa durch die Verflechtung der Nationalstaaten und Nationalgesellschaften angenommen hat, wurde dies möglich. Der sonst permanent drohende Kriegszustand ist aus Europa ausgewandert. Das alles gleicht einem Wunder.

sueddeutsche.de: Wie groß ist die Gefahr, dass Europa gerade entzaubert wird? Die Finanzkrise beutelt den Kontinent, der EU-Reformprozess stockt, das Interesse der Bürger an Europa scheint zu schwinden.

Beck: Diese Befürchtung ist berechtigt. Auch mich stimmt diese Entwicklung besorgt.

sueddeutsche.de: Manche rechnen damit, dass die Beteiligung der Bürger an der Europawahl Anfang Juni einen neuen Tiefststand erreicht. Wie erklären Sie sich das?

Beck: Der Begriff Europa ist bei vielen negativ besetzt. Vor allem, weil es für die Menschen ein Fremdkörper ist, der sich nicht identifizieren lässt. Die EU gleicht einer älteren Dame ohne Namen: Es ist immer das "Kein", mit dem Europa gekennzeichnet wird: Europa ist keine Nation, Europa ist kein Großstaat, Europa ist keine internationale Organisation. Aber was ist Europa dann? Bisher ist es nicht gelungen, den Menschen diese Frage plausibel zu beantworten.

sueddeutsche.de: Warum nicht?

Beck: Das Grundproblem ist, dass Europa einem Selbstmissverständnis aufsitzt: Es wird immer versucht, dieses Europa nach einem bekannten Modell zu denken, das aber nicht mehr passt: jenes des Nationalstaates. Die EU, diese einzigartige Form der internationalen Gemeinschaft, lässt sich aber nicht mit traditionellen Konzepten und Begriffen erklären. Diese entsprechen nicht mehr den Realitäten. Vieles hat sich grundlegend geändert.

sueddeutsche.de: Können Sie ein Beispiel nennen?

Beck: Alle gehen immer davon aus, dass es eine deutsche Innenpolitik gibt und dass Europa zur Außenpolitik gehört. Diese Unterscheidung ist falsch! Europa ist Teil der Innenpolitik, in mehrfachem Sinne: Einerseits wirkt Deutschland an der Gestaltung europäischen Rechts mit. Andererseits wird das, was in der Bundesrepublik geschieht, maßgeblich durch europäische Gesetze und die zunehmende Verflechtung beeinflusst. Es ist also eine komplexe Struktur entstanden, die sich nicht mehr nach den bisherigen Vorstellungen von Nationalstaaten und Nationalgesellschaften begreifen lässt.

sueddeutsche.de: Viele verstehen nicht, dass immer mehr in Brüssel entschieden wird, die demokratischen Beteiligungschancen der Bürger aber relativ gering bleiben. Auch der Philosoph Jürgen Habermas beklagt, dass sich die Schere in dieser Frage zu weit geöffnet habe.

Beck: Das sehe ich genauso. Insofern sind die großen Gewinner dieser Entwicklung die politischen Eliten, die großen Verlierer bisher die Bürger.

sueddeutsche.de: Mit dem Vertrag von Lissabon sollen die Bürger jetzt allerdings unter anderem mehr Beteiligungschancen erhalten. Geht er weit genug?

Beck: Man könnte sich mehr wünschen - zum Beispiel, dass der Vertrag eine Sprache spricht, die dem Bürger verständlicher ist und natürlich auch, dass die Mitsprache des Einzelnen noch nachhaltiger verankert wird. Gleichzeitig muss man aber betonen: Der Lissabonner Vertrag stärkt die Rechte des Bürgers, er eröffnet neue Partizipationschanchen. Und das ist ein wichtiger Schritt.

sueddeutsche.de: Dennoch kommt die Reform bei vielen nicht wirklich gut an.

Beck: Das liegt vermutlich daran, dass nicht wenige im Lissabonner Vertrag vor allem einen Dschungel von Paragraphen und Versprechungen sehen. Und der erzeugt Ablehung. Was dahinter steht, wird offenbar nicht mehr richtig wahrgenommen.

sueddeutsche.de: Ist das Projekt Europa durch diese Entwicklung gefährdet?

Beck: Im Moment ist Europa wirklich in großer Gefahr - nicht nur wegen des schwindenden Interesses der Bürger. Sondern vor allem aufgrund der sehr unterschiedlichen Lage, der sich europäische Staaten und ihre Nachbarn der Finanz- und Weltwirtschaftskrise ausgesetzt sehen. Zum ersten Mal taucht in der EU gerade das Gespenst der "failed states" auf, der gescheiterten Staaten. Sehen Sie sich zum Beispiel Ungarn an: Das Land droht innerlich zu zerbrechen. Aber auch andere europäische Länder sind massiv von der Krise betroffen.

Lesen Sie auf Seite 2, warum Ulrich Beck in einem EU-Beitritt der Türkei eine große Chance sieht.

Ulrich Beck über die Zukunft des Nationalstaats und die Türkei

sueddeutsche.de: Was bedeutet das für Europa?

Beck: Die EU ist ein eng vernetztes System. Deshalb ist damit zu rechnen, dass dort, wo ein Staat zusammenbricht, auch andere in Mitleidenschaft gezogen werden. Bisher hat diese schwierige Lage allerdings nicht dazu geführt, dass die Idee Europas neu formuliert wird und Europa als Antwort auf diese Krise neu erfunden wird, im Gegenteil: Führende europäische Staaten - auch Deutschland - reagieren mit Renationalisierung, sie schotten sich ab und suchen nach nationalen Antworten. Das halte ich für falsch und für eine der größten Gefahren, denen die EU bisher ausgesetzt war.

sueddeutsche.de: Das heißt, die EU ist aus Ihrer Sicht zurzeit weniger von außen als vielmehr von innen bedroht.

Beck: Ja. Eines der größten Risiken für die EU liegt in der Verantwortungslosigkeit im Innern und der mangelnden Bereitschaft, gemeinsame europäische Antworten auf weltweite Krisen zu suchen. Dieses Fehlen einer europäischen Vision ist eine zentrale Quelle für das mögliche Versagen Europas und auch seine Entzauberung.

sueddeutsche.de: Welche Antworten schlagen Sie konkret vor?

Beck: Zunächst muss man festhalten: Wir haben durch die Finanzkrise erfahren müssen, dass auch das Modell der freien Marktwirtschaft, wie wir es im Westen nach 1989 weltweit versucht haben einzuführen, Selbstzerstörungen produziert. Häufig wird das als Neoliberalismus gekennzeichnet. Über diesen Begriff kann man streiten. Aber Europa ist wesentlich nach diesem Modell gebaut worden.

Dringend notwendig ist jetzt eine Abkehr von der Priorität des Neoliberalismus und hin zu der Vision eines sozialen Europas. Ich spreche von einer EU, die für die Bürger eine Perspektive der sozialen Sicherheit entwickelt. Hier ist ein Umdenken und ein Umprogrammieren notwendig. So könnten sich die Menschen stärker mit Europa identifizieren. Dass die soziale Marktwirtschaft Lösungen für die Finanz- und Wirtschaftskrise liefern kann, halte ich dagegen für eine Illusion - weil auch sie wiederum nur im nationalstaatlichen Rahmen gedacht wird.

sueddeutsche.de: Sie trauen dem Nationalstaat offenbar nicht mehr viel zu. Ist er ein Auslaufmodell?

Beck: Nein, das wäre zu einfach. Die Kompetenz des Nationalstaats ist gerade angesichts der globalen Verwicklungen gefordert. Er kann nur nicht mehr alleine und isoliert agieren. Die europäische Geschichte hat uns gezeigt, dass der Zusammenschluss und nicht die Negation der Nationalstaaten die europäische Vision vorangebracht hat. Es geht ja nicht darum, dass wir unsere nationale Identität aufgeben.

Es geht auch nicht darum, dass wir unsere Souveränität an Europa abgeben und einen Großstaat gründen. Vielmehr geht es darum, dass die Verknüpfung und die Kooperationen, die wir geschaffen haben, ein System der Abhängigkeiten erzeugt haben. Dieses dient gleichzeitig wiederum dazu, nationale Probleme besser lösen zu können. Und es dient dazu, die nationale Identität nicht aufzugeben, sondern sie kosmopolitisch zu öffnen. In der Kosmopolitiserung sehe ich eine große Chance.

sueddeutsche.de: Was genau verstehen Sie unter Kosmopolitiserung?

Beck: Kosmopolitiserung bedeutet, dass eindeutige Grenzen durchlässiger werden. Also Grenzen, die Märkte, Staaten, Religionen oder auch die Lebenswelten der Menschen trennen. Infolgedessen bedeutet Kosmopolitisierung aber auch, das wir unfreiwillig mit dem fremden Anderen überall auf der Erde konfrontiert werden. Mit dieser Realität müssen wir uns intensiver auseinandersetzen.

sueddeutsche.de: Sie meinen, wir alle müssen offener werden.

Beck: Genau. Nach der Vision und der Realität eines kosmopolitischen Europas darf es eben nicht darum gehen, die Vielfalt der nationalen, regionalen oder lokalen Identitäten aufzugeben, sondern im Gegenteil: Gerade aus dieser Vielfalt, die Europa ausmacht, gilt es die Identität zu gewinnen.

sueddeutsche.de: Was kann man politisch dafür tun, dass sich Europa in diesem Sinne weiterentwickelt?

Beck: Man müsste deutlicher als bisher die tatsächliche Realität Europas ins Blickfeld rücken. Das klingt zunächst merkwürdig. Aber wir sind schon sehr viel weiter fortentwickelt als gemeinhin angenommen. Europa hat zum Beispiel eine enorme Ausstrahlung und Veränderungskraft in vielen Nachbarländern, die EU-Mitglied werden wollen. Also zum Beispiel in der Ukraine oder der Türkei.

Europa bringt diese Länder im Eigeninteresse dazu, europäische Werte und Gesetze zu übernehmen und in ihren Staaten zur Geltung zu bringen. Die Macht Europas besteht somit darin, die anderen nicht zu unterwerfen, sondern in dem Sinne zu verändern, dass sie sich selbst die europäischen Werte und das Rechtssystem aneignen. Und genau dadurch wird der Frieden in Europa gestärkt.

sueddeutsche.de: Sie beschreiben die Erweiterung der EU als große Chance. Viele EU-Bürger sehen aber gerade darin eine Gefahr für die Stabilität Europas oder gar eine Bedrohung. Wie kann man den Menschen die Ängste nehmen, beispielsweise im Falle der Türkei?

Beck: Das ist eine Schlüsselfrage. Ich muss gestehen, dass ich darauf keine Patentantwort habe. Aber: Die Angst vor möglichen Veränderungen, die durch eine EU-Mitgliedschaft der Türkei auf uns zukommen, halte ich für unberechtigt. Lassen Sie mich das an einer Analogie verdeutlichen. Wenn man sich die Vorbehalte ansieht, die gegen die Aufnahme des besiegten, antiwestlichen Nachkriegs-Deutschlands in die europäisch-westliche Staatengemeinschaft von anderen westlichen Staaten vorgebracht wurden, dann gleichen die Argumente ziemlich genau denen, die heute gegen die Mitgliedschaft der Türkei vorgebracht werden: Ähnlich wie heute mit Blick auf die Türkei wurde noch in den sechziger Jahren die Zugehörigkeit Deutschlands zum abendländischen Kulturkreis in Frage gestellt.

Die Demokratie sei nicht wirklich verankert, die Zivilgesellschaft unterentwickelt. Diese Vorbehalte ziehen aber nicht wirklich - und können überwunden werden. Es wäre eine Bereicherung für die europäische Identität und auch die europäische Stellung in der Welt, wenn Staaten wie die Türkei, in denen eine andere Religion praktiziert wird, in die EU aufgenommen würden.

Lesen Sie auf Seite 3, was sich Ulrich Beck für die Zukunft Europas wünscht.

Ulrich Beck über Merkels Politik und die Zukunft Europas.

sueddeutsche.de: Angela Merkel will der Türkei lediglich eine "privilegierte Partnerschaft" anbieten. Diese Politik zielt aus Ihrer Sicht also in die falsche Richtung.

Beck: Ja. Ich halte diese Politik für falsch, weil sie die Chancen Europas nicht nutzt. Mit einer starken europäischen, mit einer kosmopolitischen Realpolitik könnte auf die großen Probleme dieser Welt wie den Klimawandel, die Finanzkrise oder den Terrorismus geantwortet werden. Das Merkwürdige ist, dass man innerhalb Europas diese Einsicht in die historischen Leistungen des europäischen Modells aufgrund von Blindheiten nicht mehr sieht - während gerade außerhalb der EU Europa immer mehr zum Vorbild wird für Probleme, die die nationalstaatliche Politik überfordern.

sueddeutsche.de: Wenn Sie sich ein Europa der Zukunft wünschen könnten - was müsste sich langfristig ändern, damit das europäische Wunder weitergeht?

Beck: Wir müssen verstehen, dass die Risiken - Finanzkatastrophen oder der Klimawandel - global sind und dass wir sie nur gemeinsam bewältigen können, durch zwischenstaatliche Kooperation. Europa muss dabei die Antworten auf die Weltprobleme wie den Klimawandel als Aufgaben begreifen, über die auch eine europäische Identität hergestellt werden kann - und daher auch eine höhere Akzeptanz Europas in der Bevölkerung, vor allem bei Jugendlichen. Wenn sichtbar würde, dass die EU hier Antworten bietet und kolletiv sowie entschlossen handelt, könnte Europa als Modell und Vision eine starke Motivationskraft entwickeln - vor allem bei der jungen Generation.

sueddeutsche.de: Wie zuversichtlich sind Sie, dass Europa sich in diesem Sinne entwickelt - und vor allem: im 21. Jahrhundert den Frieden sichern kann?

Beck: Das ist eine Frage, die den anteilnehmenden Beobachter der europäischen Entwicklung in große Schwierigkeiten bringt. In den vergangenen Jahren gab es viele Einschnitte und auch Rückschritte. Deshalb ist im Moment nicht richtig erkennbar, woher die Wende zu einer wirklich enthusiastischen Entwicklung Europas kommen soll.

Der entscheidende Testfall ist für mich die Auseinandersetzung mit der Wirtschafts- und Finanzkrise und die Frage, ob Europa noch in diesem und im nächsten Jahr das "window of opportunity", das Fenster der Gelegenheit, nutzt und die EU politisch ausbaut. Daran bemisst sich sehr viel. Wenn es allerdings so weitergeht, wie wir das in den letzten Jahren erlebt haben, dann kommt es tatsächlich zu einer Entzauberung Europas.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: