Hildegard Hamm-Brücher:"Zu viele Politiker sind Anti-Vorbilder"

Hildegard Hamm-Brücher, eine bedeutende Stimme der deutschen Politik und Ex-FDP-Mitglied, über die Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten, überzogene Machtansprüche der Parteien, Westerwelles Fehler - und warum Demokratiepolitik von wichtigen Akteuren "nicht erwünscht" ist.

Peter Lindner

Dr. Hildegard Hamm-Brücher gilt noch immer als die große alte Dame der deutschen Politik und des Liberalismus, auch wenn sie die FDP bereits im Jahr 2002 verlassen hat. Als Gründe für ihren Austritt hatte die heute 89-Jährige die "andauernde rechtspopulistische, antiisraelische und tendenziell Antisemitismus schürende Agitation" ihres damaligen Parteikollegen Jürgen Möllemann sowie die Führungsschwäche von FDP-Chef Guido Westerwelle angegeben, der zu den Fehltritten Möllemanns "zu lange geschwiegen" habe.

Buchvorstellung 'Demokratie, das sind wir alle - Zeitzeugen berichten'

Aus Überzeugung liberal, aber nicht mehr in der FDP: Hildegard Hamm-Brücher

(Foto: ddp)

Die langjährige Landtags- und Bundestagsabgeordnete, ehemalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt und Präsidentschaftskandidatin von 1994 mischte sich auch nach ihrem Parteiaustritt immer wieder in gesellschaftliche und politische Debatten ein. Für ihr Engagement, vor allem in Demokratie- und Bildungsfragen, wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2010 nahm Hamm-Brücher - nominiert von den Grünen - in Berlin an der Wahl des Bundespräsidenten teil. Sie unterstützte Joachim Gauck. Die in München lebende Politikerin hat zahlreiche Bücher verfasst und herausgegeben. Zuletzt erschien unter anderem "Demokratie. Das sind wir alle."

sueddeutsche.de: Frau Hamm-Brücher, Meinungsforschern zufolge ist die Mehrheit der Deutschen unzufrieden mit der Art und Weise, wie die Demokratie funktioniert. Sie auch?

Hildegard Hamm-Brücher: Unzufrieden ist nicht das richtige Wort. Mich beschäftigt aber sehr, dass die Akzeptanz der repräsentativen Demokratie stark nachlässt und die Politik- oder Politikerverdrossenheit zunimmt. Die verantwortlichen Personen in Parteien und Parlamenten befassen sich zu wenig mit diesen Fragen. Dabei müssten sie wegen der Entfremdungsprozesse alarmiert sein.

sueddeutsche.de: Wie erklären Sie sich diese Entfremdung?

Hamm-Brücher: Die Hauptursache ist, dass in den vergangenen Jahren unter anderem wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise die Verunsicherung in der Bevölkerung gewachsen ist und viele Bürger das Gefühl hatten, dass die Politik zu wenig gegen den Abwärtstrend unternimmt. Nun ist die Krise ein Stück weit überstanden. Doch das, was zuletzt getan wurde, lässt viele immer noch ratlos zurück: Viele fragen sich, warum wir Steuerzahler die Banken füttern, warum wir Riesenbeträge an bankrotte Staaten zahlen ...

sueddeutsche.de: ... und bekommen zu selten Antworten.

Hamm-Brücher: Leider, ja. Und das ist einer der wichtigsten Gründe für die Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten: Die Volksvertreter erklären nicht mehr genügend, vor welchen Problemen wir stehen und warum sie so handeln, wie sie handeln. Generell suchen sie viel zu wenig den Kontakt zum Bürger - außer im Wahlkampf. So schwindet auch das Vertrauen in die Volksvertreter.

"Das Wahlrecht ist völlig abgehoben"

sueddeutsche.de: Nehmen Politiker den Bürger nicht mehr ernst genug?

Hamm-Brücher: Sie nehmen nicht ernst genug, dass das Volk der Souverän ist. Dabei ist das Grundgesetz klar formuliert. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Und weil es nicht anders geht, delegiert das Volk an seine gewählten Vertreter diese Souveränität auf Zeit. Und schon das funktioniert nicht mehr.

sueddeutsche.de: Was genau meinen Sie?

Hamm-Brücher: Das Wahlrecht ist völlig abgehoben, vor allem durch die Nominierung von Kandidaten, die irgendwo in Hinterzimmern ausgeklüngelt werden. Stattdessen wünsche ich mir ein Wahlrecht wie in Bayern - auch die Zweitstimme müsste eine offene Personalstimme sein.

Und das Zweite ist, dass der Volksvertreter, sobald er gewählt ist, viel zu oft ein Funktionär seiner Partei oder seiner Fraktion wird - und nicht das ist, was im Grundgesetz Artikel 38 wirklich schön formuliert ist: Dass der Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes ist, dass er an Aufträge und Weisungen nicht gebunden ist und nur seinem Gewissen unterworfen. Dieses Gebot ist meilenweit entfernt von der Wirklichkeit im Parlament.

sueddeutsche.de: Heißt das, Sie halten jegliche Fraktionsdisziplin grundsätzlich für falsch?

Hamm-Brücher: Nein. Natürlich ist es so, dass wir nicht 622 stets vollkommen freischaffende Volksvertreter haben können. Dann kriegen wir im Bundestag nichts mehr hin. Insofern sehe ich ein, dass man auch mit seiner Partei Erfolg haben will. Aber es gibt im politischen Alltag sehr viele Probleme und Entscheidungen, die man als Abgeordneter anders beurteilt als von oben in der Partei oder Fraktion verordnet. Und dann sollte man auch dementsprechend abstimmen - auch wenn es nicht auf der Linie der Partei liegt.

"Wir haben eine Parteien-Oligarchie"

sueddeutsche.de: Wie bewerten Sie die Rolle der Parteien in den vergangenen Jahrzehnten?

Hamm-Brücher: Zunächst möchte ich betonen: Auf Parteien kann und soll in der repräsentativen Demokratie nicht verzichtet werden. Aber man muss auch untersuchen: Wie repräsentieren die Parteien die Stimmen und Stimmungen? Denn gerade einmal etwas mehr als drei Prozent der Wahlbevölkerung sind Mitglieder in Parteien. Stellen Sie sich mal vor: In den Parteien gibt es noch unzählige Leute, die sich nicht beteiligen. Wenn man dann fragt: Wie viele Mitglieder haben eigentlich Einfluss in einer Partei? Dann sage ich ganz ketzerisch: Wir haben eine Parteien-Oligarchie.

sueddeutsche.de: Was bedeutet das für unsere Demokratie?

Hamm-Brücher: Wenn so wenige Leute Mitglied bei den Parteien sind, dann geht die Staatsgewalt nicht mehr vom Volke aus, sondern von gut drei Prozent der Wahlberechtigen - von denen wiederum nur ein Bruchteil wirklich Einfluss hat. Von daher haben sich die Parteien über Jahrzehnte völlig überhöhte Ansprüche gestellt und völlig ignoriert, dass mittlerweile die stärkste Partei in unserem Land die Nichtwähler sind. Da stimmt doch etwas im Gesamtablauf demokratischer Prozedur nicht mehr.

sueddeutsche.de: Wie lässt sich das korrigieren?

Hamm-Brücher: Man muss die Parteien überzeugen oder dazu zwingen, zu überlegen: Wenn wir nur wenige Prozent der Wahlberechtigten repräsentieren - was können wir denn für die anderen tun, die sich für das Gemeinwesen einsetzen? Sehr viele Bürger engagieren sich intensiv: ob beim Sportverein, bei Greenpeace oder im sozialen Bereich. Wenn man's genau nimmt, sind das die Träger der Demokratie. Und die müssen Mitspracherechte bekommen. Wir brauchen mehr Bürgerbeteiligung.

sueddeutsche.de: Und in welcher Form? Wollen Sie Volksentscheide auf Bundesebene?

Hamm-Brücher: Ich bin da vorsichtig. Man muss nicht gleich nach den Sternen greifen, sondern von Reformen überzeugen und schrittweise erproben - das halte ich auch beim Thema Bürgerbeteiligung für den richtigen Weg. So bin ich zum Beispiel sehr dafür, das Petitionsrecht nach Artikel 17 des Grundgesetzes weiterzuentwickeln und zu einem echten Bürgermitwirkungsrecht aufzuwerten.

Wenn wir das hätten, wäre das schon ein wichtiger Schritt, dass mehr Vertrauen entstehen kann zwischen engagierten Bürgen und der Volksvertretung - die im Augenblick völlig abgehoben ist. Das macht mir Sorgen.

"Demokratiepolitik - von Parteien nicht erwünscht"

sueddeutsche.de: Besorgt um den Zustand der Demokratie in Deutschland ist auch der Sozialphilosoph Oskar Negt. Er sieht gar "den inneren Zusammenhalt des demokratischen Gemeinwesens" gefährdet und beklagt ein Defizit an politischer Bildung. Erst kürzlich betonte er noch mal: Demokratie müsse gelernt werden - immer wieder, tagtäglich, bis ins hohe Alter hinein. Tut Deutschland hier zu wenig?

Hamm-Brücher: Viel zu wenig. Es gibt in den Schulen und im Elternhaus ein großes Vakuum in der Demokratieerziehung. Demokratische Verhaltensformen und demokratisches Engagement müssen frühzeitig eingeübt werden. Das sollte deutlich stärker gefördert werden. Ich nenne das Demokratiepolitik. Es ist ein großes Versäumnis, dass auf diesem Feld so wenig geschieht. Ministerin für Demokratiepolitik wäre ich gerne geworden. In skandinavischen Ländern gibt es das. Aber Demokratiepolitik ist eine Aufgabe, die von Parteien nicht erwünscht ist.

sueddeutsche.de: Nicht erwünscht?

Hamm-Brücher: Demokratie als solche muss man eben lieben und von ihr zumindest ein bisschen begeistert sein, trotz aller Schwächen. Aber Demokratie ist doch wunderbar - und die Alternative entsetzlich. Das haben gerade wir Deutschen doch leidvoll erfahren.

sueddeutsche.de: Aber gerade deshalb sollte Demokratiepolitik doch besonders erwünscht sein und gefördert werden.

Hamm-Brücher: Sollte, ja. Doch haben einige Leute in den Parteien die Sorge, dass ihre eigene Macht geschwächt wird, wenn Bürgerdemokratie lebendiger wird. Es ist noch ein obrigkeitsstaatliches Relikt, dass man sagt: Wir Parteien werden's richten.

Westerwelle und die "Lebensleistung"

sueddeutsche.de: Es wirkt, als hätten Sie das Vertrauen in die Parteien und die Politiker in Deutschland verloren.

Hamm-Brücher: Nein. Es gibt in allen Parteien wirklich nachdenkliche und verantwortungsbewusste Leute. Nur müssten sich endlich all jene zusammentun, die in Sorge über die wachsende Entfremdung sind und über Korrekturen reden. Das sollte der Bundespräsident initiieren. Wenn Sie warten, bis in allen Parteien die Reformer eine Mehrheit haben, dann würden sie aschgrau werden.

sueddeutsche.de: Erst vor kurzem hat sich Bundespräsident Wulff zum Beruf des Politikers in Deutschland geäußert und geklagt: Heute begleite die Politiker viel Häme, viel Spott, und viel Misstrauen, mehr als früher. Sehen Sie das genauso?

Hamm-Brücher: Das Ansehen der Volksvertreter war schon einmal größer. Das Problem ist: Zu viele Politiker sind Anti-Vorbilder. Das ist ein großes Manko.

sueddeutsche.de: Charismatische Politiker brauchen wir, sagten Sie einmal. Mit "Lebensleistung". Wie lässt sich dieses Profil präzisieren?

Hamm-Brücher: So sehr wir junge Abgeordnete brauchen: Die Karriere von der Schüler-Union über eine Tätigkeit bei einem Abgeordneten direkt in den Bundestag ist abträglich. Ich bin der Auffassung, dass die Bewährung in der beruflichen und menschlichen Entwicklung vorausgehen muss, bevor man wirklich versuchen kann, Politik zu machen. Das ist nichts Technisches, sondern etwas, das alle Kräfte fordert, die in einem Menschen schlummern.

Westerwelle - mit Einseitigkeit das Kapital verspielt

sueddeutsche.de: Was fällt Ihnen zur "Lebensleistung" Ihres früheren Parteichefs Guido Westerwelle ein?

Hamm-Brücher: Ich kenne Westerwelle, seitdem er als Junger Liberaler die ersten Versuchsschritte in der Politik getan hat. Von Anfang an wusste ich: Der ist begabt und imstande, Politik zu machen. Ich finde auch, dass es ihm einmal gelungen ist, die FDP aus dem Tief herauszubekommen vor der letzten Bundestagswahl. Aber er hat mit seiner Einseitigkeit das Kapital verspielt, das ihm der Wähler gegeben hat. Und dann bin ich bei meinem Hauptthema: Dass in der FDP außer Herrn Westerwelle fast niemand wirklich bekannt ist. Wer steht für Bildung? Wer steht für Umwelt? Es gibt immer nur Steuerermäßigung. Das ist ein Jammer.

"Ihr jungen Leute habt keine Schuld"

sueddeutsche.de: Viele Jahre lang waren es kluge Köpfe wie Ralf Dahrendorf, die sich intellektuell einbrachten in die Partei und Impulse gaben, vor allem zu Themen jenseits der Steuerpolitik. Wie nehmen Sie das bei der FDP von heute wahr?

Hamm-Brücher: Seit langem fehlt das leider. Ich war in den neunziger Jahren noch mal im Vorstand der Partei und auch im Präsidium. Dort habe ich nicht ein Mal eine intellektuelle Diskussion erlebt, sondern immer nur kurzfristig gucken: Wie positionieren wir uns? Das war nicht mehr meine liberale Welt.

sueddeutsche.de: Auch nach ihrem Austritt aus der FDP haben Sie sich immer wieder in politische Debatten eingemischt. Auch mit 89 Jahren engagieren Sie sich unter anderem immer noch in der Demokratieerziehung an Schulen. Was treibt Sie besonders an?

Hamm-Brücher: Ich halte es immer noch für sehr wichtig, etwas gegen das Vergessen zu tun. Nicht gebetbuchartig herunterzuleiern, wie schrecklich die Nazidiktatur war. Sondern um zu sagen: Ihr jungen Leute habt keine Schuld. Ihr müsst nur dafür sorgen, dass es nicht wieder passiert. Das ist das Einzige, was ich gerne noch vermitteln möchte.

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