Geschichte des Holocaust:Ausschnitt der Wirklichkeit

Holocaust im Dritten Reich

Häftlinge mit "Judenstern" in einem Konzentrationslager, links im Bild ein NS-Scherge

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Fokussiert auf ein Merkmal: Timothy Snyder biegt in seinem Buch die Geschichte der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg - bis sie zu seiner Gegenwartsanalyse passt.

Rezension von Michael Wildt

Michael Wildt lehrt an der Humboldt-Universität Berlin Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt Nationalsozialismus.

Man könnte boshaft beginnen: An allem ist die deutsche Hausfrau schuld. Denn Hitler sei der Auffassung gewesen, so Timothy Snyder, dass deutsche Frauen einen Lebensstandard wollten, der dem amerikanischen gleichkäme. Und daher bräuchten die Deutschen ein imperiales Großreich und männliche, tapfere Rassenkrieger, um die Bedürfnisse ihrer Frauen nach einem immer behaglicheren Heim zu befriedigen.

Aber Timothy Snyder, Professor für Geschichte an der Yale University und Autor des überaus erfolgreichen und weithin beachteten Buches "Bloodlands", ist ein seriöser Historiker, der nicht auf eine groteske Hitler-Interpretation reduziert werden darf. In seinem neuen Buch "Black Earth" geht es ihm vielmehr darum, ein aus seiner Sicht zentrales Grundmerkmal des Holocaust herauszuarbeiten, um mittels dessen Präsenz auch in der Gegenwart vor der möglichen Aktualität eines Massenmords zu warnen.

Zu Recht weist Snyder darauf hin, dass außer dem Begriff des Lebensraums - also der Vorstellung, dass Völker einen ihrer Größe angemessenen Siedlungsraum besitzen müssen, um sich ernähren zu können - das Phantasma des jüdischen Bolschewismus den Nationalsozialismus geprägt hat.

Der Antijudaismus ist seit Jahrhunderten mit der Geschichte des christlichen Europa verbunden. Doch kennzeichnet die Moderne zum einen die Verbindung von Judenfeindschaft und Rassismus zum Antisemitismus, zum anderen die Identifizierung der bolschewistischen Revolution in Russland als Werk einer jüdischen Weltverschwörung.

Ideologisches Amalgam

Damit entstand jenes mörderische ideologische Amalgam, mit dem sich der Angriff auf die Sowjetunion als Befreiung der Welt vom Kommunismus wie vom Judentum feiern ließ. "Wo der Jude ist, ist der Partisan. Wo der Partisan ist, ist der Jude" gehörte zu den Leitsätzen der Wehrmacht und rechtfertigte den Massenmord an der sowjetischen Zivilbevölkerung.

Die Zerstörung der Sowjetunion war eingebettet in einen größeren, für Snyder entscheidenden Zusammenhang. Nicht nur Hitler sei ein Anarchist gewesen, der Staat und Recht vernichtete. Auch die Bolschewiki hätten die vormaligen staatlichen Strukturen in ihrem Machtbereich niedergerissen.

So ist es konsequent, den Hitler-Stalin-Pakt 1939 und die anschließende doppelte Besetzung Polens wie der baltischen Staaten und, je nach Auffassung, auch der Ukraine durch die Sowjetunion wie NS-Deutschland zu allererst als Zerstörung existierender Staaten zu charakterisieren.

Schon den "Anschluss" Österreichs 1938 interpretiert Snyder als Staatszerstörung, obwohl er dafür den Beweis schuldig bleibt, denn die österreichischen Institutionen kamen nun lediglich unter nationalsozialistische Kontrolle oder wurden an die staatlichen Strukturen Deutschlands angepasst.

Die Zerstörung staatlicher Strukturen in Osteuropa habe, so Snyder, dazu geführt, dass sich die Deutschen - Snyder spricht stets allgemein von den Deutschen, ohne weiter zu differenzieren - einzelner Staatsorgane wie der jeweiligen Polizei haben bedienen können. Wo es keinen Staat mehr gab, florierte die Kollaboration. Und ohne Mithilfe vieler Einheimischer hätte der Massenmord nicht geschehen können.

Snyder hat ganz recht, wenn er die Bedeutung der Kollaboration hervorhebt. Aber stimmt die Fokussierung auf den Staat? Dass der Massenmord in staatsfernen Räumen, in denen die Täter nicht erst umständlich Regeln und Verfahren beiseite räumen müssen, sich leichter bewerkstelligen ließ als in bürgerlichen, rechtsstaatlichen Verhältnissen, haben Snyder selbst in "Bloodlands" und vor ihm schon Jörg Baberowski und Felix Schnell ausführlich geschildert.

Aber es gab viele Gründe - etwa Antisemitismus, Habgier, völkischer Nationalismus oder Karrierestreben unter der neuen Besatzungsmacht - warum sich Einheimische am Massenmord beteiligten. Die Entbindung von einstigen staatlichen Verpflichtungen gehörte zweifellos dazu, aber stellt eben nur ein Element dar.

Der NS-Staat rechnete im Voraus mit dem Hungertod von Millionen

Für die NS-Führung war die Auslöschung der Sowjetunion von vornherein klar. Im Osten sollte ja das neue, rassistische Lebensraumimperium der Deutschen entstehen. Snyder unterschätzt die Vorbereitung des Genozids in der Sowjetunion.

Sein Argument, die Deutschen hätten den Völkermord in den zerstörten staatlichen Strukturen erst gelernt, blendet die vielfältigen Planungen des NS-Regimes aus vom Aushungern der Städte, dem rücksichtslosen Raub von Lebensmitteln für die Wehrmacht, wobei der Tod von "zig Millionen" Menschen, wie es wörtlich im Protokoll der Sitzung der Staatssekretäre im Mai 1941 hieß, kalt ins Kalkül gezogen wurde, bis zum Sterbenlassen von zwei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, um deren Versorgung die Wehrmachtsführung sich nicht kümmerte.

Auch in Westeuropa drang die deutsche Besatzungsmacht auf die Auslieferung der dortigen Juden. Den unterschiedlichen Erfolg des NS-Regimes, die jüdischen Minderheiten zu deportieren und zu ermorden, mit den jeweiligen staatlichen Strukturen zu erklären, wie Snyder es tut, heißt jedoch, ein komplexes Geschehen auf einen einzigen Gesichtspunkt zu reduzieren. Während in Osteuropa ein deutsches Lebensraum-Imperium entstehen sollte, waren in Westeuropa ganz unterschiedliche außen- wie besatzungspolitische Rücksichtnahmen vonnöten, um Frankreich, Belgien, die Niederlande, Dänemark, Norwegen in die Kriegsanstrengungen einzubinden.

Neben der Ausbeutung von Finanz-, Industrie-, Agrar- und Rohstoffressourcen waren es vor allem Arbeitskräfte, die das Deutsche Reich dringend brauchte, standen doch seine Arbeiter als Soldaten an der Front. All diese Aspekte spielen bei Snyder überhaupt keine Rolle.

Die Differenz zwischen Dänemark und Estland, der Snyder ein Kapitel widmet, erschöpft sich eben nicht allein in der Frage des Staates. Die Rettung der jüdischen Minderheit in Dänemark und die fast vollständige Ermordung der estnischen, aber auch niederländischen Juden hatte jeweils eine Fülle von Gründen.

Em Ende geht es um den Klimawandel und das heutige Russland

Der Sinn seines Buches erschließt sich im letzten Kapitel. Snyder, der zahlreichen internationalen Gremien angehört, möchte ein starkes Plädoyer für intakte Staaten halten, deren Bewohner als Staatsbürger mit Rechten ausgestattet und somit vor Rechtsverletzungen geschützt sind.

Angesichts von globalen Krisen wie dem Klimawandel, aggressiven Staaten wie dem heutigen Russland und Weltregionen, die durch zusammengebrochene Staaten und Bürgerkriege charakterisiert sind, sieht Snyder die Gefahr, dass erneut Massengewalt aufbricht, einzelne Gruppen wie früher die Juden verantwortlich gemacht und ermordet werden.

Doch braucht man für eine solche Warnung den Holocaust? Dass Snyder die Geschichte des Holocaust so biegen muss, dass sie als historisches Argument zu seiner Gegenwartsanalyse passt, offenbart, wie sehr der nationalsozialistische Völkermord an den europäischen Juden mittlerweile zu einer bloßen Chiffre für politische Debatten geworden ist.

Snyders Buch erklärt den Holocaust nicht; ob seine politische Botschaft als Lösung für die gegenwärtigen globalen Krisen taugt, wird sich erweisen.

Korrektur 26. Oktober 2015: In einer früheren Version dieser Rezension des Buches "Black Earth" von Timothy Snyder schrieb Michael Wildt, der Autor sei mittlerweile zum Berater des US-Präsidenten aufgestiegen. Das ist falsch. Timothy Snyder legt Wert auf die Feststellung, dass er weder persönlichen noch beruflichen Kontakt mit dem Präsidenten oder seiner Administration pflegt.

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