Gerüchte um Vizepräsident Xi Jinping:Chinas Elite verliert den Draht zum Volk

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Herzinfarkt, Zerrung im Rücken oder doch ein Verkehrsunfall? Chinas Noch-Vizepräsident Xi Jinping hat sich seit zwei Wochen nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt - und niemand weiß, warum. Die Gerüchte um Xi belegen nicht nur, wie abgeschottet vom Volk Chinas Funktionärskaste regiert: Sie zeigen einmal mehr, wie brüchig die Machtkonstellation im Land inzwischen ist.

Kai Strittmatter, Peking

Xi Jinping hatte einen Herzinfarkt. Oder auch nicht. Er hat sich eine Zerrung im Rücken zugezogen, und zwar beim Fußballspiel. Nein, beim Schwimmen. Er wurde Opfer eines von seinen Gegnern eingefädelten Verkehrsunfalles. Unsinn, es geht ihm wunderbar, er hat bloß keine Zeit für Fototermine, denn er arbeitet hinter den Kulissen mit aller Kraft an Reformen, wie sie China noch nicht gesehen hat.

Die Gerüchte um Xi Jinping belegen, wie abgeschottet vom Volk Chinas Funktionärskaste regiert (Archivbild vom 29. August 2012). (Foto: AP)

Das alles sagen "eingeweihte Kreise". "Hochrangige Beamte". "Experten mit guten Beziehungen". "Familienangehörige". Nur die, die es wirklich wissen, die sagen nichts. Chinas Partei und Regierung schweigen, Chinas Volk und die Welt tappen im Dunkeln.

Eigentlich sind nur zwei Dinge klar: Chinas Noch-Vizepräsident Xi Jinping soll in den nächsten Wochen seinen Chef ablösen und 1,3 Milliarden Chinesen anführen, also einer der mächtigsten Männer der Welt werden. Und er wurde seit bald zwei Wochen nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen, hat Termine platzen lassen, Staatsgäste versetzt.

Comeback der "Kremlastrologie"

Und so ist es die hohe Stunde einer Zunft, die mit dem Untergang der Sowjetunion schon einmal beinahe ausgestorben wäre, die aber bis heute in Peking überwintert: die Kremlastrologie, wobei man das Wort Kreml hier durch "Zhongnanhai" ersetzen muss, denn in dem so benannten idyllischen Viertel, Teil des alten Palastgartens, regiert eine Kaste von Funktionären so hermetisch abgeschottet vom Volk wie einst die kaiserlichen Mandarine, so geheimbündlerisch wie zu jenen Zeiten, da ihre Partei sich im Untergrund behaupten musste.

Bloß: Die Partei kämpft seit mehr als 60 Jahren nicht mehr im Untergrund. Sie führt ein Land, das mittlerweile zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Erde geworden ist, das dabei ist, ein militärischer Koloss zu werden. Ein Land, das sich selbst gerne "modern" nennt. In einer Welt, die mehr und mehr verflochten ist. Die KP und viele ihrer Methoden wirken in dieser Welt und in ihrem eigenen Land mehr und mehr anachronistisch. Die Volkszeitung, das Sprachrohr der Partei, hat eine Kolumne, die heißt "Dieser Tag in der Geschichte". Am Donnerstag wurde da an den 13. September 1971 erinnert, der Tag, an dem jenes Flugzeug abstürzte, in dem Lin Biao saß, lange Zeit Mao Zedongs enger Vertrauter und bester Propagandist, auf der Flucht in die Sowjetunion. Das ist nun 41 Jahre her - und noch immer weiß niemand, was damals wirklich geschah.

Gut möglich, dass Xi Jinping sich bloß den Rücken verrenkt hat, gut möglich, dass er bald wieder auftaucht, als sei nichts gewesen. Sehr wahrscheinlich, dass sein Volk und die Welt auch danach nie erfahren werden, wo er in den Tagen seines Verschwindens steckte. Mit körperlicher Gesundheit und Stärke wurde in China schon oft Politik gemacht. Mao selbst durchschwamm 1965 den Langen Fluss, da war er 72 und wollte es noch einmal allen zeigen, es war der Startschuss zur Kulturrevolution.

Wo aber die Transparenz fehlt, regiert nicht nur die Kremlastrologie ausländischer Medien, die nun die Reisepläne der anderen Führer studieren und vor Militärkrankenhäusern auf der Lauer liegen, es regieren im eigenen Land wilde Gerüchte und Verschwörungstheorien. Diese Woche sperrten die Zensoren im populären Mikrobloggingdienst Sina Weibo folgende Begriffe: Rückenverletzung, Kronprinz, Thronfolger, Vizepräsident, vor allem aber jede nur denkliche Schreibweise von Xi Jinping selbst. Findige Nutzer stellten auf einmal tausendfach die Frage "Where is she?" (Das englische "she" wird ähnlich ausgesprochen wie "Xi").

Es läuft nicht gut für die KP. Die Parteichoreografen haben den anstehenden Führungswechsel vor wenigstens fünf Jahren eingefädelt, schon 2007 erkoren sie Xi zum Nachfolger von KP-Generalsekretär Hu Jintao. Und jetzt wird ausgerechnet dieses Jahr, für das sie mit aller Macht "Harmonie" und "Stabilität" diktieren wollten, für sie zum Annus horribilis: Zuerst der Skandal um den Chongqinger Gouverneur Bo Xilai, dessen Ehefrau einen britischen Geschäftsmann ermordet hatte. Und jetzt das Abtauchen von Kronprinz Xi.

In beiden Fällen versuchte die KP mit Zensur und Geheimniskrämerei die Kontrolle zu behalten, eine ihr genehme Wirklichkeit zu schaffen, in beiden Fällen richtete sie damit eine Menge Schaden für sich selbst an. Die Partei wirkt mit ihrer obsessiven Geheimniskrämerei auch auf mehr und mehr Chinesen, als sei sie aus der Zeit gefallen.

Illusion der Stabilität

Sie möchte die Illusion der Stabilität erhalten, doch erreicht sie in Zeiten von Internet und Globalisierung das Gegenteil: Wer das Katz- und Mausspiel von Zensoren und Internetnutzern verfolgt, sieht kein Vertrauen in die Partei, sondern Angst, Unsicherheit und Zynismus. Im März, nach Bo Xilais Amtsenthebung, kursierten auf Weibo gar Gerüchte, in Peking seien Panzer aufgefahren.

Und auch für die Bewunderer des chinesischen Wirtschaftswunders sind die Fälle eine Erinnerung, dass in Peking nicht verlässliche Institutionen regieren, sondern ein System, dem jegliche transparente Mechanismen für wirtschaftliche und politische Entscheidungsprozesse fehlen. Für viele Kenner des chinesischen Wunders, schreibt die Financial Times, "scheinen das Land und sein System so brüchig und so zerbrechlich wie nie im letzten Jahrzehnt".

© SZ vom 14.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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