George Bush vor seiner zweiten Amtszeit:Die Mär von der Moral

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Eine genaue Analyse zeigt, dass der US-Präsident den Wahlsieg nicht nur religiösen und konservativen Gruppen verdankt.

Von Bernhard Kornelius

Moralische, patriotische und religiöse Werte haben Konjunktur. Die CDU bedient sich der Begriffe auf ihrem Parteitag, politische Strategen sehen ein gewaltiges Thema für die Bundestagswahl 2006.

Bush hat mit der Moral gepunktet. Aber was bedeutet das? (Foto: Foto: AP)

Der Trend kommt, wie so oft, aus den USA, und er wird belegt mit dem Wählerwunsch, der angeblich George Bush die zweite Amtszeit beschert hatte. Wertedebatte und Religiosität bestimmten Alltag und Gesellschaft in den Vereinigten Staaten, heißt es, Spiritualität herrsche über Rationalität. Sind die Amerikaner aber tatsächlich ein Volk von religiösen Moralisten geworden?

Die jetzt vorliegenden Nachwahlbefragungen zeichnen ein anderes Bild. Die Thesen vom Vormarsch der religiös-konservativen Kräfte und dem Gewicht moralischer Werte lassen sich häufig schon mit wenigen Daten entkräften.

Sicher hat Bush einen überwältigenden Erfolg in der großen Religions-Gruppe der "Wiedergeborenen Christen" errungen, zu der sich der Präsident selbst zählt.

Neben der Religion gewannen aber plötzlich die moralischen Werte an Bedeutung und wurden in verschiedenen Analysen zum wichtigsten Faktor der gesamten Wahl stilisiert.

Was Werte sind

Als die Wähler unmittelbar nach der Stimmabgabe nach dem Grund ihrer Wahlentscheidung gefragt wurden, da entschied sich eine Mehrheit für "moral values". Moralische Werte, so die Analyse, hätten den Ausschlag für die Wiederwahl Bushs gegeben.

Eine Schlagzeile war geboren. Das Ergebnis muss aber näher untersucht werden. Ganze 22 Prozent entschieden sich für den Terminus "moral values" - eine relative Mehrheit.

Außerdem war der Begriff vorgegeben und nicht weiter definiert. Unter sieben vorgegebenen Antwortmöglichkeit rangierten gleich hinter der Moral die Themen Wirtschaft und Arbeitsplätze (20 Prozent), Terrorismus (19 Prozent) und der Irak (15 Prozent). Gesundheitsversorgung, Steuern und Bildung komplettierten die Agenda, spielten aber eine nachgeordnete Rolle.

Was war gemeint?

Doch nicht nur die selektive Interpretation, auch der methodische Zugang war problematisch. Im Dunkeln blieb, was mit moralischen Werten eigentlich gemeint war.

Aufwändige Nachwahlbefragungen haben jetzt ergeben, dass die Amerikaner den Begriff völlig unterschiedlich deuteten. Wie die Meinungsforscher von Zogby International herausfanden, stellten 42 Prozent der Wähler das Thema Irak in den Kontext moralischer Angelegenheiten.

Auch Krieg und Folter haben eine moralische Dimension, genauso wie Gesundheit und Steuern. In einer weiteren Untersuchung des selben Instituts bezeichnete fast ein Drittel Habgier und Materialismus, und nochmals fast genauso viele Armut als das größte moralische Problem in der amerikanischen Kultur.

Nur 16 Prozent nannten in diesem Zusammenhang Abtreibung, lediglich 12 Prozent die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften.

Dabei mussten gerade Homo-Ehen und das Thema Abtreibung herhalten, um konservative Trends zu erklären: Referenden, wonach eine Heirat nur zwischen Mann und Frau möglich sein dürfe, waren in allen elf Bundesstaaten erfolgreich, in denen sie zur Abstimmung standen.

Aber: Landesweit machte sich lediglich gut ein Drittel aller Amerikaner, und auch nur die Hälfte der Bush-Wähler, gegen die Homo-Ehe oder die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften stark.

Unter den nach eigenen Angaben konservativen Wählern, deren Anteil nach einem leichten Anstieg in den letzten vier Jahren mit 33 Prozent jetzt exakt wieder das Niveau wie schon zur Mitte der Clinton-Regierung erreicht hat, sind es drei von fünf.

Der Religions-Faktor

Die Zahl der Abtreibungsgegner ist in den USA während der letzten acht Jahre dagegen leicht angewachsen. Allerdings plädiert nach wie vor mehr als die Hälfte aller US-Bürger und noch gut ein Viertel der Konservativen für eine Legalisierung der Abtreibung.

Bleibt der Faktor Religion. Bush erhielt bei den "Wiedergeborenen Christen", die immerhin gut ein Fünftel der gesamten Wählerschaft stellten, 77 Prozent der Stimmen. Das ließ viele Klerikalen frohlocken.

Ein direkter Vergleich dieser Gruppe zur letzten Präsidentschaftswahl ist wegen veränderter Abfragetechniken nicht möglich. Nach Berechnungen des renommierten Pew Research Center ist es den Republikanern zumindest gelungen, über die Parteiidentifikation mehr Menschen aus der Gruppe der "White Evangelical Protestants" zu binden.

Der Anteil der weißen Evangelikalen an der Gesamtbevölkerung liegt allerdings schon seit Beginn der 90er Jahre auf unverändertem Niveau.

Bei allen Protestanten sowie unter allen regelmäßigen Kirchgängern holte Bush rund drei von fünf Stimmen. Eine ebenfalls positive Bilanz, aber - und hier gibt es den Vergleich - kein neues Phänomen: Bushs Plus bei den Protestanten fällt nur durchschnittlich aus, bei den regelmäßigen Kirchgängern liegen die Zuwachsraten sogar etwas unter dem Gesamtniveau.

Das Kontingent der regelmäßigen Kirchgänger hat sich seit der letzten Wahl im Jahr 2000 praktisch nicht verändert - nach wie vor geben 42 Prozent aller Amerikaner zu Protokoll, dass sie mindestens einmal pro Woche zum Gottesdienst gehen.

Bush ist es indes gelungen, bei den selten oder nie Praktizierenden leicht überproportional zu punkten - freilich ohne am Ende seinen Herausforderer in diesen Gruppen schlagen zu können. Bei den regelmäßigen Kirchgängern erreichte John Kerry immerhin auch 41 Prozent.

Nach der Mär von der Moral lässt sich das Land also ebensowenig in die politischen Lager der Gläubigen und Ungläubigen aufteilen.

Die wirklich tiefen Risse verlaufen indes entlang anderer Konfliktlinien, vor allem bei den Themen Irak und Ökonomie. Nach Gallup weiter die größten Probleme im Land.

Wirklich einig ist sich die Bevölkerung dagegen an anderer Stelle: Die Angst vor Terroranschlägen ist in beiden politischen Lagern gleichermaßen verbreitet.

Bush hatte in Sachen Terrorbekämpfung, und dazu zählt die Mehrheit der Amerikaner auch den Krieg im Irak, einen satten Vorsprung.

Sieg an allen Fronten

Schon immer können Amtsinhaber in Krisen- und Kriegszeiten von einer pro-gouvernementalen Stimmung profitieren. Zudem ist Bush Präsident geblieben, weil die Mehrheit der Amerikaner auch ganz allgemein mit seiner Amtsführung zufrieden ist.

Eine tendenziell konservative und teilweise tief religiöse Gesellschaft gab ihm dafür zweifellos eine solide Basis. Das war zu Beginn der ersten Amtszeit aber nicht anders.

Bush verdankt die zweite Amtszeit also nicht einem einzigen Klientel oder Thema. Die landesweiten Zuwächse verteilen sich auf fast alle sozialen und ethnischen Gruppen und sind nirgendwo spektakulär.

Ein Plus gibt es im Süden und Westen, im Nordosten und im Mittleren Westen, bei Männern wie Frauen, Schwarzen, Latinos und Weißen, in fast allen Alters- und Bildungsgruppen, bei Verheirateten wie Singles, bei Erstwählern, Konfessionslosen und Kirchgängern und sogar bei denjenigen Amerikanern, die keine Waffe besitzen.

Von einem Rechtsruck in der Bevölkerung, das unterstreichen die neuen Analysen, kann also nicht die Rede sein. Ein forciertes Bekenntnis zu Religion und Moral hat nicht stattgefunden. Das Fundament für Georg Bushs zweite Amtszeit ist in den meisten Teilen der amerikanischen Gesellschaft einfach nur etwas breiter geworden.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Wahlen in Mannheim.

© SZ vom 15.12.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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