Geopolitische Folgen der Snowden-Enthüllungen:Globale Überwachung braucht globale Antworten

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Auch die Frage, ob und wo Edward Snowden Asyl erhält, hat zu diplomatischen Verwerfungen geführt

(Foto: AFP)

Der Umgang mit Snowden hat den USA fast noch mehr geschadet als die Enthüllungen. Nicht nur die Beziehungen mit Russland leiden. Aber was sind die geopolitischen Folgen?

Von Johannes Kuhn, San Francisco

Der vielleicht spannendste Konjunktiv der NSA-Affäre: Was wäre, wenn Edward Snowden niemals an die Öffentlichkeit gegangen wäre? Wie wäre sein Schicksal verlaufen? Wie hätte die Welt die Enthüllungen aufgenommen, wenn sie nicht mit seinem Gesicht und Charakter verknüpft gewesen wären? Und: Wie würden die USA dastehen, wenn der Umgang mit ihrem prominentesten Ex-Geheimdienstanalysten und die durch ihn ermöglichten Veröffentlichungen nicht zu allerhand diplomatischen Entwicklungen geführt hätte?

Wir erinnern uns: China drückte bei der Ausreise des Enthüllers aus Hongkong die Augen zu, was Washington verschnupfte. Einige eher linke lateinamerikanische Regierungschefs wiederum boten dem Whistleblower Asyl an, woraufhin die US-Regierung das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Evo Morales in Wien unter Snowden-Transportverdacht aufhalten ließ. Das sorgte für eine echte diplomatische Grippe - in seltener Einigkeit verurteilte der ehemalige südliche "Hinterhof der USA" die Aktion.

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Und dann natürlich ist da Wladimir Putin, der Snowden nach wochenlangem Aufenthalt auf dem Moskauer Flughafen Asyl für ein Jahr gewährte. Das Verhältnis der beiden Regierungen war schon vorher schlecht, trotz "Neustart"-Wünschen Obamas. Im Nachhinein kann die Episode aber als Indiz dafür gewertet werden, wie gestört die Kommunikation zwischen Washington und Moskau schon damals war.

Globale Antworten? Nur Absichtserklärungen und Gesten

Nun sind die diplomatischen Verwerfungen durch die massenhafte Überwachung der USA und die Auseinandersetzungen um den Umgang mit Edward Snowden nicht zu trennen. Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie keine Neujustierung der internationalen Systeme herbeigeführt haben. Die globalen Antworten auf die NSA- (und, nicht zu vergessen, GCHQ-)Affäre liegen in Absichtserklärungen und Gesten.

Die UN-Vollversammlung verabschiedete im Dezember 2013 unter Federführung Deutschlands und Brasiliens, deren Regierungschefs von der NSA abgehört wurden, einstimmig eine Resolution zur Privatsphäre im Internet. Die UN-Staaten warnen darin vor Verletzungen der Privatsphäre und Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch die "ungesetzliche und willkürliche Überwachung" von Kommunikationsdaten.

Die Resolution ist nicht bindend und auf dem Papier so schön zu lesen (welcher Geheimdienst würde behaupten, "willkürlich" zu spionieren?), dass ihr selbst die größten Internet-Zensoren und -Überwacher zustimmen konnten. Auch die Europäische Union ließ ihr Parlament zwar die digitale Spionage untersuchen und in Bausch und Bogen verdammen. Nur deutet sich bislang nicht an, dass daraus größere Konsequenzen folgen.

Entfremdung innerhalb des westlichen Bündnisses

Ist die geopolitische Wirkung der Aufdeckung der ungeheuren Überwachungsvorgänge also gleich null? So einfach ist es auch wieder nicht: In einem größeren historischen Kontext betrachtet, trägt sie zu einer Entfremdung innerhalb des westlichen Bündnisses bei, die mit dem Irak-Krieg der Bush-Allianz begann - und die nach der Multipolarisierung der Welt womöglich in einem gewissen Maße ohnehin unvermeidbar war. Die europäische Öffentlichkeit ist amerikakritisch wie nie zuvor, und auch die recht einheitliche Haltung der Regierungen in der Ukraine-Krise kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass aus einem gemeinsamen Wertesystem ein System gemeinsamer Interessen geworden ist.

In diesem Kontext ist auch der Umgang der US-Regierung mit Edward Snowden zu betrachten: Aus deren Binnensicht (und auch aus der Perspektive großer Teile der amerikanischen Öffentlichkeit) wirkt dieser logisch. Für den überwachten Rest der Welt scheint die Obama-Administration sich jedoch in einem völlig falschen Koordinatensystem zu bewegen, den Enthüller zum Verräter zu stempeln.

Wenn im Juli das Snowden gewährte Asyl zu Ende gehen sollte, wird dieser Konflikt wieder in den Vordergrund treten. Die USA haben dann nicht viel zu gewinnen; andere demokratische Staaten aber womöglich viel zu verlieren. Was wäre, wenn Edward Snowden sich wieder auf Reisen begeben müsste? Dieser Konjunktiv dürfte vielen Regierungen der furchteinflößendste sein.

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