Gehörlos im Parlament: Helene Jarmer:Mittendrin statt still dabei

"Schreien nützt nichts": Helene Jarmer ist die erste gehörlose Abgeordnete im österreichischen Parlament. Vor einem Jahr hielt sie ihre Antrittsrede - in Gebärdensprache: Wie sie mit Witz gegen Klischees kämpft - und Kollegen überrascht.

Peter Lindner

Die Dolmetscherin zuckt zusammen. Der Lärm aus dem Flur unterbricht das Gespräch abrupt. Stille. Dann heult die Bohrmaschine ein zweites Mal auf.

Helene Jarmer

Seit einem Jahr im Parlament: Helene Jarmer

(Foto: Die Grünen/Katharina Gossow)

Die österreichische Parlamentsabgeordnete Helene Jarmer schickt einen fragenden Blick in die Runde. "Es ist laut, es ist wirklich laut", sagt die Dolmetscherin und erklärt dies gleichzeitig ihrer Chefin - mit den Händen: Helene Jarmer kann den Lärm nicht hören. Sie ist gehörlos.

Jetzt lässt sie ihre Hände durch die Luft wirbeln. Die Dolmetscherin übersetzt, was die Grünen-Politikerin gebärdet: "Sollen wir den Raum wechseln?" Doch das ist nicht nötig. Die Handwerker haben aufgehört zu bohren. Und Helene Jarmer fängt an zu erzählen.

"Schreien nützt nichts"

"Vieles hat sich seit dem 10. Juli 2009 für die 10.000 gehörlosen Menschen in Österreich verändert, und zwar zum Positiven", erklärt die Politikerin, während sie mit dem Mund Laute und einige Worte formt. Worte, die sie selbst nicht hört.

Die hochgewachsene blonde Frau formuliert klar - mit filigranem Körpereinsatz. Ihre Bewegungen, ihre Gestik und Mimik sind präzise aufeinander abgestimmt. Die Dolmetscherin sitzt ihr schräg gegenüber und übersetzt, ohne den Blick von ihr zu lösen.

Vor einem Jahr, am 10. Juli 2009, hielt die heute 38-Jährige im Parlament in Wien ihre Antrittsrede - in Gebärdensprache. "Schreien nützt nichts", machte sie ihren Kollegen damals schon klar.

Sie ist seit 2001 Präsidentin des österreichischen Gehörlosenbundes, Behindertensprecherin bei den Grünen und die erste gehörlose Abgeordnete im österreichischen Nationalrat. Der Sprung ins Parlament gelang in den vergangenen Jahrzehnten europaweit nur wenigen gehörlosen Politikern - in Deutschland noch keinem einzigen.

Auch deshalb werden Reden im Deutschen Bundestag nur in Ausnahmefällen in Gebärdensprache übersetzt. Anders als in Österreich, dank Helene Jarmer: Seit sie im Nationalrat sitzt, können Gehörlose die Debatten live mitverfolgen - alle Reden werden gedolmetscht.

Außerdem überträgt das Fernsehen die Sitzungen mit Gebärdenspracheinblendungen. "Damit wurde eine Bewusstseinsbildung angestoßen. So konnte ein neues Selbstverständnis gegenüber der Gebärdensprache entstehen," sagt Helene Jarmer und fügt hinzu: "Auch das bedeutet Barrierefreiheit: Zugang zu Information und Kommunikation."

Brücke zur akustischen Welt

Helene Jarmer ermöglichen diesen Zugang insgesamt sechs Dolmetscherinnen, die je nach Bedarf abwechselnd für sie tätig sind. Sie sind ihre Brücke zur akustischen Welt. Dass der Staat für den Einsatz ihrer Dolmetscherinnen im Jahr etwa 200.000 Euro aufwendet, bewegte vor einem Jahr einige Boulevardzeitungen. Helene Jarmer konterte damals: "Gehörlose Menschen zahlen schließlich auch Steuern."

Die Abgeordnete benötigt für etwa 99 Prozent ihrer politischen Arbeit die Unterstützung von Dolmetscherinnen: "Zu meinem Job gehört es, zu telefonieren, auch im Parlament muss ich immer wieder Zwischengespräche führen." Die Grünen-Politikerin setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben und dass sie gleichwertig am Leben teilhaben können. "In meinem Fall heißt das eben auch, eine Dolmetscherin an meiner Seite zu haben."

Wie vom Blitz getroffen

Ihre Kollegen im Nationalrat haben inzwischen gelernt, wie man mit ihr kommuniziert: "Sie schnappen sich meine Dolmetscherin, kommen auf mich zu und legen los. Vor einem Jahr wäre das undenkbar gewesen."

Drei der Frauen, die ihr Ohren und Stimme leihen, bezeichnet sie als "Stammdolmetscherinnen". "Sie kennen die Themen, die Personen und mittlerweile auch die Gesetze. Das ist ein großer Vorteil." Eine dieser Mitarbeiterinnen nimmt im Parlament stets direkt neben ihr Platz - sie ist die Einzige, die im Plenum einen Sitz hat, obwohl sie nicht gewählt wurde.

"Zufällig ist einmal ein Kollege von einer anderen Partei auf dem Dolmetschersitz gesessen", erzählt Helene Jarmer. "Dann hab ich scherzhaft gefragt: 'Ahh, dolmetschst du heute für mich?' Und wissen Sie was? Der war so schockiert, ist wie vom Blitz getroffen aufgesprungen und hat die Flucht ergriffen."

Ihre Hände fliegen wieder durch die Luft, sichtlich amüsiert fährt sie fort. "Ich habe versucht ihn aufzuhalten und ihm klarzumachen, dass ich das nicht ernst gemeint habe. Dass auch ich fähig bin, Witze zu machen".

"Wir sind nicht stumm"

Offensichtlich existieren noch immer Berührungsängste im Umgang mit gehörlosen Menschen. Jarmers Bewegungen werden ruhiger. "Viele denken leider: die armen Behinderten. Das Witzemachen ist denen bestimmt vergangen."

Sehr ernst und energisch wird sie, wenn sie von jenen spricht, die gehörlose Menschen als "taubstumm" bezeichnen. "Wir sind nicht stumm. Wir gehören einer Sprachgemeinschaft an. In Österreich ist die Gebärdensprache seit 2005 in der Verfassung als eigene Sprache anerkannt." Dafür hatte sie jahrelang gekämpft.

Gehörlos - nach einem Unfall

Kämpfen für gleiche Chancen und gegen Klischees - darin hat Helene Jarmer viel Erfahrung. Menschen aus ihrem Umfeld bezeichnen sie als äußerst zielorientiert, durchsetzungsstark, intelligent und voller Tatendrang.

Das Verschwinden der Töne

Davon zeugt auch ihr Werdegang. Sie studierte in Wien, wurde Sonder- und Heilpädagogin und war die erste gezielt eingesetzte gehörlose Lehrerin an einer österreichischen Gehörlosenschule.

Unter anderem hat sie einen Lehrauftrag für Gehörlosenpädagogik an der Universität Wien und leitet seit 2005 das "ServiceCenter ÖGS.barrierefrei", ein Projekt zur barrierefreien Gestaltung öffentlicher Webangebote. "Ich bin immer meinen Weg gegangen. Aber ohne die Unterstützung meiner Eltern wäre ich heute nicht Abgeordnete im Parlament."

Ihr Vater ist akademischer Bildhauer, die Mutter Modezeichnerin. Beide sind gehörlos. Helene Jarmer war es bei ihrer Geburt jedoch nicht. Ein Verkehrsunfall katapultierte sie im Alter von zwei Jahren brutal in die Welt der Stille: Zwei Autos kollidierten, eines davon wurde auf den Gehsteig geschleudert, auf dem ihre Mutter die kleine Helene im Kinderwagen spazieren schob. Bei diesem Unglück verlor das Mädchen ihr Gehör.

"Ich bin ein glücklicher Mensch"

Musik, Töne - daran kann sie sich noch leise erinnern. Vor dem Unfall ging Helene gerne mit in die Kirche. Sie liebte den Klang der Orgel. "Nach dem Unfall waren Kirchen für mich plötzlich kalt und still."

Das Mädchen vermisste die Musik. "Der Mann, der immer so schön spielte, wird wohl krank sein, dachte ich." Als sie einmal zur Orgel lief, um nach ihm zu sehen, saß er da. Er saß genau an dem Platz, wo er immer saß. Und spielte. Doch sie hörte ihn nicht mehr. "Ich war damals zu jung, um zu verstehen, was mit mir passiert war."

Eine Sehnsucht nach Tönen kennt sie heute nicht mehr. "Mein Leben ist so und das passt so. Ich bin ein glücklicher, zufriedener Mensch. Würde ich wieder hören, würde das mein komplettes Weltbild verändern."

Ob sie nicht doch irgendetwas vermisst? "Nein", sagt Helene Jarmer. "Ich habe gern meine Ruhe. Sehen Sie: Den Bohrer da draußen höre ich nicht. Und Sie dürfen mir glauben: Den vermiss ich auch nicht."

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