Geheimnisverrat:Die Wächter der Inkompetenz

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Seit es Staaten gibt, gibt es Staatsgeheimnisse - oder das, was die Herrschenden als solche ausgeben: je nachdem, welche Fehler sie kaschieren wollen.

Von Hans Leyendecker und Georg Mascolo

Es ist ein historisches Foto. Natürlich in Schwarz-Weiß. Zwei Hamburger Polizisten sitzen im Spätherbst 1962 vor den Räumen der Spiegel-Dokumentation, drinnen suchen Bundesanwälte und Beamte des Bundeskriminalamts nach Belegen für ihren Verdacht, das Magazin habe Staatsgeheimnisse verraten. Die beiden Polizisten auf dem Foto schauen verlegen drein, fast verdrießlich.

Vor dem Verlagsgebäude hefteten ihre Kollegen derweil Strafzettel an die schwarzen Limousinen, mit denen die Fremden gekommen waren. Ganz legal. Sie standen im Halteverbot. Damals lehnte sich ein ganzes Bundesland gegen die Ausforschungen auf: "Die Gefahr einer ungesetzlichen Einschränkung der Pressefreiheit ist nicht von der Hand zu weisen", schrieb Hamburgs Innensenator Helmut Schmidt an den Bundesinnenminister. "Ich fühle mich dafür verantwortlich, dass hamburgische Beamte nicht zur Amtshilfe bei gesetzwidrigen Amtshandlungen herangezogen werden."

Der Erste Bürgermeister der Hansestadt, der Sozialdemokrat Paul Nevermann, schickte sogar ein Blitztelegramm an Kanzler Konrad Adenauer: Er sehe "die bedenkliche Gefahr einer gesetzwidrigen Einschränkung der Pressefreiheit und damit eines Verstoßes gegen das Grundgesetz". Wenn die Bundesregierung nicht für einen "einwandfreien Ablauf des Verfahrens" sorge, sehe sich der Senat "gezwungen, die Rechtmäßigkeit der Tätigkeit von Bundesbeamten im Bereich des Landes Hamburg prüfen zu müssen". Und Schmidt ordnete an, die Hamburger Polizei solle untersuchen, ob die Bundespolizei Telefonleitungen überwache und möglicherweise Ferngespräche blockiere.

Diese Episode aus den Tagen der Spiegel-Affäre macht klar, dass es mit dem Staatsgeheimnis nicht so einfach ist. "Was als Staatsgeheimnis zu gelten hat", schrieb der berühmte hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, "steht nicht fest, sondern wird von Fall zu Fall durch den Staat, der sich geschädigt fühlt, dekretiert."

Wer aber ist der Staat? Andererseits: "Von Fall zu Fall" ist eine korrekte Beschreibung der Lage. Im Mai 2014 hatten Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR darüber berichtet, dass deutsche Nachrichtendienste Zugriff auf soziale Medien wie Facebook und Twitter suchten. Doch erst nachdem der Blog Netzpolitik.org viele Monate später das Dokument zu dem Bericht veröffentlicht hatte, leitete die Bundesanwaltschaft im Juli 2015 wegen dieses und eines anderen Dokuments Ermittlungen gegen die Macher des Blogs ein. Beim Vorwurf des Verrats spielte das Moment der Willkür schon immer eine besondere Rolle. Soziologen führen gern das Beispiel des englischen Königs Heinrich VIII. an, dessen Töchter Elisabeth und Maria sich beide Hoffnungen auf den Thron machten. Nach einem Gesetz von 1534 machte sich des Hochverrats schuldigt, wer Elisabeths Anspruch für rechtmäßig hielt, den von Maria aber bezweifelte. Zwei Jahre später dann galt der als Verräter, wer einen dieser Ansprüche vertrat. Und 1543 war es schließlich Verrat, einen der beiden Ansprüche in Zweifel zu ziehen.

In Deutschland gibt es einen Katalog abgestufter Heimlichkeiten: Von "Streng geheim" (Verschlusssachen, deren Kenntnis durch Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik oder eines ihrer Länder gefährden oder ihrem Ansehen schweren Schaden zufügen könnte) bis hin zu "VS-Nur für den Dienstgebrauch". Wenn in Untersuchungsausschüssen von Staats wegen Material aus den Behörden vorgelegt werden muss, findet sich immer wieder sogar auf Zeitungsausschnitten der Stempel VS-NfD. Es soll geheim bleiben, was eigentlich jeder lesen konnte. Manchmal bekommen auch weiße Seiten diesen Stempel.

Vor den Büros Hamburger Polizisten, drinnen BKA-Beamte: Der Spiegel im Oktober 1962. (Foto: Lothar Heidtmann/dpa)

Vom US-Historiker Arthur Schlesinger stammt die Feststellung, dass "niemand das Recht des Staates infrage stellt, bestimmte Dinge geheim zu halten". Aber die wahre Funktion der Geheimhaltung sei, die Regierung "davor zu schützen, für ihre Inkompetenz, ihre Käuflichkeit, ihre Torheiten, Fehler und Verbrechen zur Rechenschaft" gezogen zu werden.

Bisweilen ist für den Journalisten Geheimnisbruch die erste Dienstpflicht. Aber er muss abwägen, was ein legitimes Geheimnis ist und was nicht. Über die bevorstehende Kommandoaktion gegen Osama bin Laden hätte wohl kein Journalist geschrieben, wenn er davon gewusst hätte. Über die Geheimgefängnisse der CIA wurde und musste berichtet werden.

Als die britische Zeitung Guardian im Weißen Haus wegen anstehender Wikileaks-Veröffentlichungen vorsprach, wurden die Journalisten gewarnt: "Sie werden zustimmen, dass wir viel besser einschätzen können, was eine Bedrohung für die nationale Sicherheit ist."

Und die Antwort des Guardian lautete: "Sie werden zustimmen, dass wir viel besser einschätzen können, was eine Geschichte ist."

© SZ vom 01.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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