Geheimdienst:Geschichten aus Pullach

Reinhard GEHLEN

Mehr Büro als Bond: Reinhard Gehlen nach seiner aktiven Zeit.

(Foto: Sven Simon/dpa)

Rolf-Dieter Müller hat eine detailreiche, aber auch weitschweifige Biografie über den legendären BND-Chef Reinhard Gehlen geschrieben.

Von Tanjev Schultz

In seinen Memoiren schrieb Reinhard Gehlen von "zeitweiligen Verstimmungen" des Bundeskanzlers, die rasch wieder verflogen seien. Was für eine Untertreibung! Konrad Adenauer hatte Gehlen, den Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), am 12. November 1962 regelrecht zum Verhör bestellt - und hätte ihn am liebsten vom Fleck weg verhaften lassen. Adenauer verdächtigte den BND, in der Spiegel-Affäre mit dem Magazin kollaboriert zu haben. Tatsächlich bemühte sich der Geheimdienst seit Jahren um einen guten Draht zu den Journalisten in Hamburg. Gehlen beschwichtigte, flüchtete sich in falsche Angaben, entging Verhaftung und Rücktritt, hat sich aber, so sein Biograf Rolf-Dieter Müller, beim "Anschiss" des Kanzlers "vermutlich ähnlich gefühlt wie im Alter von vier Jahren bei der einzigen Tracht Prügel seines Vaters".

Der legendäre BND-Präsident erscheint als schwer zu greifender Karrierist

Das "vermutlich" verweist auf ein Problem, das sich durch dieses voluminöse Werk zieht: Den Gedanken und Gefühlen des Chefspions nachzuspüren ist ein Aufklärungsakt auf schmalem Seil. Dass der Historiker dabei nicht stürzt, liegt an der Akribie, mit der er die Archive durchforstet hat. Dass der Leser am Ende womöglich immer noch kein klares Bild von Reinhard Gehlen, dem "Mann ohne Gesicht", vor Augen hat, liegt daran, dass der Autor eine Fülle an Material ausbreitet, das zwar vieles über den BND und seinen Vorläufer, die "Organisation Gehlen", verrät, Gehlen als Person jedoch ziemlich blass aussehen lässt.

Der legendäre BND-Präsident erscheint als schwer zu greifender Karrierist. Sein Leben: mehr Büro als Bond. Gehlens Opportunismus könnte sogar noch größer gewesen sein als sein glühender Antikommunismus - und gewiss größer als seine intellektuelle Brillanz. Der Mythos, der den angeblichen Meisterspion umgab, mag auch einem gewissen Talent zur Hochstapelei entsprungen sein.

Müller schreibt, nach 1933 habe es Gehlen verstanden, sich anzupassen, ohne sich zu offenbaren. Er sei kein Republikaner gewesen, aber auch kein überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus. Der junge Soldat hielt vor allem das eigene Fortkommen im Blick. Er stieg auf, wurde Leiter der Abteilung "Fremde Heere Ost" im Generalstab der Wehrmacht. Seine Aufgabe war es, die Sowjetunion und ihre Armee auskundschaften zu lassen. Dabei sammelte er auch Erfahrung darin, sich mit echten oder vermeintlichen Erkenntnissen über den Feind wichtig zu machen. So gelang es ihm am Ende des Krieges, sich den Amerikanern anzudienen, für die CIA zu arbeiten und unter Beteiligung zahlreicher Altnazis den Auslandsgeheimdienst der Bundesrepublik aufzubauen.

Müllers Buch gehört zu einer Reihe von Publikationen, mit denen eine Historiker-Kommission die Geschichte des BND aufarbeitet. Der Geheimdienst unterstützte die Arbeit, indem er bisher geheime Quellen zugänglich machte. Müller, Jahrgang 1948, war leitender wissenschaftlicher Direktor im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Er versichert, der BND habe inhaltlich nicht eingegriffen.

Wie sehr der BND ein innenpolitisches Machtinstrument war, zeigten zuletzt Enthüllungen aus Gehlens Privatarchiv, in denen unter anderem das Ausspähen Willy Brandts und der SPD dokumentiert ist (SZ vom 2./3. Dezember). Auch Müllers Biografie belegt, wie skrupellos und ohne rechtsstaatliches Gewissen Gehlen im Inland mitmischte und Partei für die Union nahm. Gehlen hatte das Ohr des Kanzleramtschefs Hans Globke. Und auch wenn schließlich die Spiegel-Affäre und zuvor der Skandal um einen Doppelspion das Ansehen beschädigten: Der Dienst in Pullach hatte sich seine mächtige Position im Kalten Krieg längst erobert.

Die Biografie geht chronologisch vor. Zunächst erzählt Müller weitschweifig Gehlens Familiengeschichte, untersucht die Schulzeit in Breslau und Gehlens Entscheidung, Offizier zu werden. Allzu packend ist das nicht. Der Detailreichtum der Schilderungen verdeckt die großen Linien. So sorgsam der Historiker die Quellen ausbreitet, so überladen und aussagelos wirken manche Episoden. Da wird in aller Ausführlichkeit beschrieben, wie die Infanterie-Division aussah, der Gehlen 1939 angehörte, und welche militärischen Pläne der Generalstab schmiedete. Der Bezug zum Leben und Wirken des späteren BND-Präsidenten ist nicht immer zu greifen.

In einem Spiegel-Interview sagte Müller, der BND sei zu Gehlens Zeit deutlich schwächer gewesen, als man ihn gemeinhin dargestellt habe. Er habe "alle größeren Krisen verschlafen", die Einblicke in die DDR seien "oft armselig" gewesen. Doch immerhin sei es Gehlen zu verdanken, dass der Westen keinen Partisanenkrieg im Osten angezettelt habe. Entsprechende Pläne seien Gehlen viel zu riskant gewesen. Solche interessanten Urteile lassen sich zwar auch in der großen Biografie aufspüren, dort gehen sie in der Masse der Details jedoch beinahe unter. Ein noch stärker erklärender und wertender roter Faden hätte dem Werk gutgetan. Erzählerisch hätte das kenntnisreiche Buch aus dem Stoff mehr machen können. Dennoch wird niemand, der an der Geschichte Gehlens und des BND interessiert ist, an diesen beiden Bänden vorbeikommen.

Rolf-Dieter Müller: Reinhard Gehlen. Geheimdienstchef im Hintergrund der Bonner Republik. Die Biografie. Ch. Links Verlag, Berlin 2017. 1376 Seiten in zwei Bänden, (Teil 1: 1902 - 1950, Teil 2: 1950 - 1979), 98 Euro.

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