Gefangenenaustausch:Die Schuld des Samir Kuntar

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Für die Libanesen ein Volksheld, für die Israelis die Ausgeburt eines arabischen Terroristen: Die Geschichte eines Mannes, der zu 542 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Tomas Avenarius

Wenn Samir Kuntar endlich nach Hause kommt, dann wird er sich immer wieder selbst sehen, wie in einem Spiegel. Auf den Straßen, im Wohnzimmer seiner Mutter, in den Zimmern seiner Schwestern und Brüder, womöglich sogar drinnen in den Häusern der Nachbarn: Überall hängt das Porträt eines kräftigen Mannes in den Vierzigern, dichte Augenbrauen, darunter dunkle Augen und ein schuhbürstenbreiter Schnurrbart.

Sein Foto ist über die Jahre hinweg zur Ikone geworden: Samir Kuntar. (Foto: Foto: Getty Images)

Samir Kuntars Foto ist über die Jahre hinweg eine Ikone geworden im Libanon, nicht nur in seinem Dorf Abey oben in den Bergen über Beirut. Weshalb auf einem der vielen Plakate über der Landstraße steht: "Wir heißen den Helden Samir Kuntar willkommen." Samir Kuntar ist das Bewusstsein des Libanon, Palästinas, der gesamten arabischen Nation.

Gut 30 Jahre ist es her, dass Kuntar Abey verlassen hat. Er war damals 16 Jahre alt und zog los, um zusammen mit drei anderen Untergrundkämpfern an einem Strand bei Nahariya in Israel anzulanden in einem Schlauchboot. Das Kommando, unterwegs im Auftrag der damals noch vom Libanon aus kämpfenden Palästinenserorganisation PLO, wollte angeblich Geiseln nehmen.

Fakt ist, dass am Ende vier Israelis tot waren: Ein Polizist, dann ein Familienvater, dessen vierjährige Tochter und deren zweijährige Schwester. Auch zwei der Kämpfer starben, die anderen beiden wurden festgenommen. Kuntar selbst hatte, so urteilte jedenfalls das israelische Gericht, den Polizisten erschossen und den Zivilisten. Vor allem aber hat er offenbar die Vierjährige ermordet: Er soll ihr mit dem Kolben seiner Gewehres den Schädel zertrümmert haben.

Was den Fall noch tragischer macht: Die Mutter hatte sich mit dem kleineren Kind unter einer Treppe versteckt. Um das Kind am Schreien zu hindern, hielt die verängstigte Frau ihm den Mund zu: Das Kind erstickte in ihren Armen. Samir Kuntars Mutter aber sagt: "Mein Sohn ist kein Mörder. Er hat weder den Vater noch das israelische Mädchen getötet." Dann stellt Siham Kuntar die Mokkatasse ab und streicht ihren abgetragenen Hauskittel glatt. "Das ist eine israelische Lüge."

Samir Kuntar, verurteilt zu 542 Jahren Gefängnis, ist wegen des Anschlags von 1979 seit fast drei Jahrzehnten für die Israelis die Ausgeburt eines arabischen Terroristen. Für die Libanesen hingegen ist er der am längsten in Israel einsitzende Gefangene und ein Volksheld. Nachdem die Israelis ihn jetzt am Grenzposten Naqura übergeben hatten, wurden er und vier ebenfalls freigelassene Hisbollah-Kämpfer in Beirut empfangen wie Staatsgäste: Die Staatsführung des Libanon stand am Flughafen, der Tag selbst war zuvor zu einem Feiertag erklärt worden, auf den Straßen Beiruts gab es am Abend Feuerwerk.

Wie so häufig im Nahostkonflikt ist die Wahrnehmung in Kuntars Fall eine Frage der Perspektive. Daran aber, dass der Libanese den Vater und das Kind ermordet hat, bestehen nach dem Gerichtsurteil keine wirklich begründbaren Zweifel. Obwohl er selbst diese Tat bis heute bestreitet.

Für seine 65-jährige Mutter jedenfalls ist er der Sohn, den sie seit 30 Jahren nicht mehr gesehen hat, von dem sie wenig mehr weiß als das, was er in seinen regelmäßigen Briefen niederschrieb und mit dem sie nur zwei Mal in drei Jahrzehnten kurz am Telefon sprechen durfte. "Wir sind der Hisbollah sehr dankbar", sagt Siham Kuntar zur Süddeutschen Zeitung. "Sayed Hassan Nasrallah hat sein Wort gehalten. Er hat meinen Sohn befreit."

© SZ vom 17.7.2008/vw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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