Gedenkfeier im Bundestag:"Unter eine solche Geschichte lässt sich kein Schlussstrich ziehen"

Gedenkfeier im Bundestag: Der Historiker Heinrich August Winkler während seiner Rede zum Kriegsende im Deutschen Bundestag

Der Historiker Heinrich August Winkler während seiner Rede zum Kriegsende im Deutschen Bundestag

(Foto: AP)
  • In einer Feierstunde gedenken Bundestag und Bundesrat des Endes des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945.
  • Hauptredner ist der Historiker Heinrich August Winkler. Er würdigte den 8. Mai als Tag der Befreiung, erinnerte aber daran, dass Deutschland "in gewisser Weise von sich selbst befreit" worden sei.
  • Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte, das Gedenken gelte vor allem den Soldaten der westlichen Alliierten und der Roten Armee.
  • Der amtierende Bundesratspräsident Volker Bouffier hebt die Rolle des geeinten Europa hervor.

Winkler fordert, sich dunklen Seiten der Vergangenheit zu stellen

70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa hat der Historiker Heinrich August Winkler Deutschland aufgefordert, das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus wachzuhalten. "Abgeschlossen ist die deutsche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nicht, und sie wird es auch niemals sein", sagte Winkler in seiner Rede im Bundestag. "Unter eine solche Geschichte lässt sich kein Schlussstrich ziehen."

Es gebe "keine tiefere Zäsur in der deutschen Geschichte" als den 8. Mai 1945, sagte Winkler. Er erinnerte an die historische Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Gedenktag des Kriegsendes, in der der damalige Bundespräsident den 8. Mai 1945 als "Tag der Befreiung" bezeichnet hatte. Winkler betonte aber, dass die meisten Deutschen diesen Tag zunächst nicht als Befreiung erlebt hätten.

Die Deutschen wurden "von sich selbst befreit"

Der von den alliierten Soldaten und der Roten Armee unter schwersten Opfern erkämpfte Sieg über Deutschland habe "die Deutschen in gewisser Weise von sich selbst befreit" und ihnen die Chance gegeben, sich von "politischen Verblendungen" zu lösen. Die deutsche Wiedervereinigung habe es nur geben können, weil das Land "glaubwürdig mit jenen Teilen der politischen Tradition gebrochen hatte, die der Entwicklung einer freiheitlichen Demokratie westlicher Prägung entgegenstanden", sagte Winkler.

In der deutschen Geschichte gebe es auch vieles Gelungene, nicht zuletzt in der Zeit nach 1945. Doch die Aneignung dieser Geschichte, müsse auch die Bereitschaft einschließen, "sich den dunklen Seiten der Vergangenheit zu stellen". Diese Verantwortung, betonte Winkler, gelte für alle Deutschen, "ob ihre Vorfahren vor 1945 in Deutschland lebten oder erst später hier eingewandert sind". Vom Bundestag erhielt er dafür Applaus.

Eine deutsche Sondermoral führe in die Irre

Winkler warnte davor, die deutsche Schuld als Argument für eine übertriebene deutsche Zurückhaltung in der Welt zu gebrauchen. Eine "forcierte Aktualisierung zu politischen Zwecken" sei eine Gefahr im Umgang mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Weder aus dem Holocaust noch aus anderen nationalsozialistischen Verbrechen noch aus dem Zweiten Weltkrieg insgesamt lasse sich ein "deutsches Recht auf Wegsehen" ableiten. "Jeder Versuch, mit dem Hinweis auf den Nationalsozialismus eine deutsche Sondermoral zu begründen, führt in die Irre."

Deutschland habe durch den Zweiten Weltkrieg die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Europa sich nach dem Zweiten Weltkrieg in einen freien westlichen und einen unfreien östlichen Teil gespalten habe. Daraus ergebe sich eine "besondere Pflicht zur Solidarität mit Ländern, die erst im Zuge der friedlichen Revolutionen von 1989/90 ihr Recht auf innere und äußere Selbstbestimmung wiedergewonnen hätten.

"Nie wieder", forderte Winkler, "dürfen unsere ostmitteleuropäischen Nachbarn, die 1939/40 Opfer der deutsch-sowjetischen Doppelaggression im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes wurden und die heute unsere Partner in der Europäischen Union und im Atlantischen Bündnis sind - nie wieder dürfen Polen und die baltischen Republiken den Eindruck gewinnen, als werde zwischen Berlin und Moskau irgendetwas über ihre Köpfe hinweg und auf ihre Kosten entschieden."

Schmerzhafter Prozess der Selbstbefreiung

Wie Winkler griff auch Bundestagspräsident Norbert Lammert das Weizsäcker-Zitat als "Tag der Befreiung" auf. Doch der 8. Mai 1945, betonte er, sei "kein Tag der deutschen Selbstbefreiung". Lammert erinnerte an den "schmerzhaften Prozess der inneren Befreiung", den die Deutschen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg durchlaufen hätten. Das Gedenken und der Respekt gelte aber heute vor allem "denen, die unter unvorstellbaren Verlusten die nationalsozialistische Terrorherrschaft beendet haben": den westlichen Alliierten und der Roten Armee.

Die Graffiti, die sowjetische Soldaten 1945 im Reichstag hinterlassen hätten, seien deshalb nicht entfernt, sondern "ganz bewusst restauriert und konserviert" worden - als authentische Symbole für das Ende des Krieges.

Der Zweite Weltkrieg sei von Deutschland mit krimineller Energie begonnen und betrieben worden. "Der Fall, den die Deutschen erlebten, konnte tatsächlich nicht tiefer sein", sagte Lammert. Umso erstaunlicher sei es, dass Deutschland nach 1945 die Chance erhalten habe, "antitotalitäre Konsequenzen" aus der Zeit des Nationalsozialismus zu ziehen. "Die Bereitschaft unserer Nachbarn zur Versöhnung ist ebenso beispiellos wie die Katastrophe, die ihr vorausgegangen war", sagte Lammert.

"Europa ist die richtige Antwort auf das Inferno zweier Weltkriege"

Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), der als amtierender Bundesratspräsident sprach, hob die Verantwortung hervor, die den Deutschen aus ihrer Geschichte erwachse. In Deutschland sei kein Platz für diejenigen, die die Demokratie bekämpften oder Menschenrechte missachteten. Das gelte für "Extremisten aller Art, insbesondere für die, die als ewig Gestrige oder neue Anhänger des Nationalsozialismus ihr Unwesen" trieben.

Bouffier betonte zudem die zentrale Rolle Europas als Garant für Demokratie und Menschenrechte: "Das vereinte Europa und die Europäische Union sind die richtige Antwort auf das Inferno zweier Weltkriege", sagte er.

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