Geburten:Das Ende der Inselgeburt

Geburten: Bald wird es hier keine gebürtigen Insulaner mehr geben - der Strand von Wyk auf Föhr.

Bald wird es hier keine gebürtigen Insulaner mehr geben - der Strand von Wyk auf Föhr.

(Foto: Rudolf Pigneter/Mauritius)

Kostendruck, fehlende Hebammen, steigendes Haftungsrisiko: Immer mehr Geburtsstationen auf dem Land müssen schließen. Auf Föhr rebellieren nun die Einwohner.

Von Thomas Hahn, Wyk auf Föhr

Das kleine Plakat am Eingang des Cafés zum Wattenläufer in Dunsum auf Föhr ist schon etwas vergilbt. Aber es ist unmissverständlich, denn es zeigt das durchgestrichene Porträt des Landrats Dieter Harrsen. Über dem lächelnden Gesicht steht in Großbuchstaben "Wir müssen draußen bleiben!", darunter: "Landrat Harrsen rück das Gutachten raus!!!" Der Verwaltungschef des Landkreises Nordfriesland ist eine unerwünschte Person hier, weil er angeblich die wahren Gründe für die Schließung der Föhrer Geburtenstation zurückhält.

Und nicht nur hier darf er nicht rein: Auf ganz Föhr findet man die Zettel mit dem durchgestrichenen Harrsen-Kopf, an Tankstellen, an Läden, an Gaststätten. Seit Frühjahr läuft die Kampagne, sie wird nicht gnädiger. Und wenn man mit den Leuten darüber redet, wird klar, wie sehr sie der Umstand trifft, dass auf ihrer Insel keine Kinder mehr zur Welt kommen können. "Ich kann das überhaupt nicht begreifen", sagt etwa Friedrich Riewerts, der ehrenamtliche Bürgermeister von Nieblum, "es ist doch wichtig, dass wir Nachwuchs bekommen."

Schwangere sollen sich zwei Wochen vor Geburt in eine Klinik auf dem Festland begeben

In Deutschland gibt es immer weniger Geburtenstationen, und dieser Trend belastet vor allem die Menschen im ländlichen Raum. Laut dem Deutschen Hebammen-Verband (DHV) gab es in Deutschland 1991 noch 1186 Kliniken, in denen Geburten möglich waren, 2014 nur noch 725. "Und in den vergangenen zwei Jahren wurden 40 weitere geschlossen", sagt Sprecherin Nina Martin.

An der Westküste von Schleswig-Holstein fällt das Problem derzeit besonders auf. Die Geburtenstation im Krankenhaus von Wyk auf Föhr war die letzte auf einer Nordseeinsel, nachdem 2014 schon der Kreißsaal auf Sylt weggefallen war. Und in diesem Sommer gab auch noch die Klinik in Niebüll am gegenüberliegenden Festland ihre Geburtenstation vorübergehend auf. Schwangere auf Föhr sind nach Stand der Dinge aufgerufen, sich nach Absprache mit ihrem Frauenarzt bis zu 14 Tage vor dem errechneten Geburtstermin in die Boarding-Unterkünfte der weiter entfernten Krankenhaus-Standorte Husum oder Flensburg zu begeben.

Friedrich Riewerts empört das: "Wenn meine Tochter und ihr Mann ein zweites Kind kriegen wollen - wie sollen sie das dann machen? Soll der Mann 14 Tage vorher mit nach Flensburg ziehen, und so lange wird er gekündigt? Wie stellen die sich das vor, die Politiker?" Die Entwicklung empfindet er als Schlag gegen seine Heimatverbundenheit. Es dürfte eines Tages keine gebürtigen Insulaner mehr geben. Vor allem: Gehört eine ortsnahe Geburtshilfe nicht zur Grundversorgung?

Natürlich tut sie das, findet der DHV und sieht den Trend als Symptom eines Vernunftdenkens im Gesundheitssystem, das vor allem wirtschaftlichen Interessen folgt. Die Arbeitsbedingungen für Hebammen haben sich in den vergangenen Jahren verschlechtert. In den Krankenhäusern steigt die Belastung wegen des Kostendrucks. Freiberufliche Hebammen ächzen außerdem unter den Beiträgen zur Berufshaftpflichtversicherung, die sich laut DHV seit 2002 auf über 6800 Euro verzehnfacht haben. Der Beruf ist gerade nicht besonders attraktiv, es ist deshalb gar nicht mehr so einfach, qualifiziertes Personal zu finden. Der Kreißsaal in Niebüll zum Beispiel musste nicht wegen Unterbeschäftigung schließen: Weil Hebammen fehlen, kann die Klinik gerade nicht die fünf nötigen Stellen besetzen. Nina Martin nennt das "ein hausgemachtes Problem".

Kostendruck durch Patientensicherheit

Aber die meisten Geburtenstationen verschwinden, weil Krankenhausträgern die gesetzlichen Anforderungen an die Patientinnen-Sicherheit zu teuer werden. Die Träger sagen das nur nicht gerne so hart - zumindest will das der Kreis Nordfriesland als Träger des Inselklinikums Föhr/Amrum nicht tun, wenn es um das Ende des Föhrer Kreißsaales geht. Sprecher Hans-Martin Slopianka sagt: "Jeder Krankenhausträger hat die höchstmögliche Sicherheit für Mutter und Kind zu gewährleisten. Wann diese Sicherheit erreicht ist, definieren aber nicht der Klinikträger oder die Bevölkerung vor Ort, sondern die medizinische Fachgesellschaft DGGG." Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sehe "in Stationen mit weniger als 500 Geburten im Jahr die Qualität nicht als gesichert und deshalb das Haftungsrisiko als erhöht" an.

Das leuchtet im Grunde ein, dass kleine Stationen Abstriche bei der Notfallversorgung machen müssen, weil es nicht genügend Blutkonserven und schnelle Operations-Möglichkeiten gibt. Studien belegen das. Der demografische Wandel trägt deshalb dazu bei, dass Kreißsäle schließen. Und die Geburtenstation auf Föhr war natürlich klein, weil es auf der Insel mit ihren 8300 Einwohnern schon immer relativ wenige Geburten gab; 2014 waren es 64, immerhin bei steigender Tendenz.

Allerdings weist der Wissenschaftler-Verein DGGG von sich, dass er Qualitätsstandards definiere, die Krankenhausträger binden. "Das können wir rechtlich gar nicht", sagt Vorstandsmitglied Frank Louwen und versteht deshalb den Verweis auf die DGGG nicht. "Wenn ein Träger eine Abteilung schließt, tut er das in der Regel aus betriebswirtschaftlichen Gründen."

So war es offensichtlich auch auf Föhr. Kassen, Klinik-Aufsichtsrat, Kommunal- und Landespolitik kamen zu dem Schluss, dass das Haftungsrisiko in Wyk nicht zu verantworten sei. "Leitlinien von Fachgesellschaften" und "Besetzungsvakanzen" hätten die Entscheidung mitbeeinflusst, schrieb der Landrat Harrsen im November 2015 auf Anfrage des SPD-Kreistagsabgeordneten Carsten F. Sörensen. Außerdem verweist der Verband der Ersatzkassen (VdEK) auf "bereits identifizierte Qualitätsprobleme über mehrere Jahre hinweg". Man hätte die Mängel beheben können. Aber das wäre teuer geworden. "Die Kassen gehen (...) von Mehrkosten in Höhe von ca. 3 Millionen Euro aus", schrieb Harrsen.

Auch ein Gutachten von 2014 stützt den Beschluss. Das allerdings gibt Harrsen nicht preis, was die Föhrer erst recht wütend macht. Sprecher Slopianka erklärt: "Das Gutachten enthält detaillierte Informationen bis hin zu Aussagen über einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die kein Arbeitgeber veröffentlichen würde."

Der Zorn der Föhrer hält an. Die BürgerInitiative "Inselgeburt" hatte im Sommer einen Aktionstag. Und Bürgermeister Riewerts schimpft: "Das haben Leute entschieden, die nicht von der Insel sind. Bei Sturm kommt man nicht ans Festland." Es ist, als wäre der Föhrer Insel-Stolz zerbrochen durch das Ende des Kreißsaals.

Aber Krankenhausträger und Kassen sitzen den Ärger aus. Der VdEK spricht von einem "notwendigen Trend zur Zusammenlegung oder Schließung von Geburtenstationen". Und der Landrat Harrsen sagt: "Diesen Trend könnten wir selbst dann nicht aufhalten, wenn alle 162 000 Nordfriesinnen und Nordfriesen vor dem Berliner Gesundheitsministerium dagegen protestieren würden." Er hofft, "dass die Menschen auf Föhr und Amrum die Beweggründe für die Schließung mit der Zeit akzeptieren". Bis es so weit ist, muss er ertragen, dass er auf Föhr nicht tanken kann und im Café zum Wattenläufer kein Heißgetränk bekommt.

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