Gauck ein Jahr im Amt:Meister der ersten Begegnung

Bundespräsident Gauck in der Schweiz

Unprätentiös und freundlich: Joachim Gauck an der Deutschen Schule in Genf. Der Präsident wirkt wie der Jugendpfarrer, der er einstmals war.

(Foto: dpa)

Er möchte nach wie vor der Bürger Gauck sein, deswegen erlebt er die Grenzen des Präsidenten Gauck manchmal als erhebliche Einschränkung. Dennoch hat er seinem Amt im ersten Jahr zu neuem Ansehen verholfen. Als Mahner der Politiker sieht er sich nicht - vielmehr als Verteidiger.

Von Stefan Braun, Berlin

Er wird wieder zum Jugendpfarrer. Da kann er 73 sein und Bundespräsident. Es ändert gar nichts. Kaum hat Joachim Gauck auf dem kleinen Stuhl in der Aula Platz genommen, lobt er alle, die da sind. Den Rektor, die Schüler und die erste Frage. "Dass ihr da seid, dass ihr euch so interessiert - das freut mich sehr."

Er sagt das unprätentiös, er lächelt herzlich und schaut den Schülern dabei so offen in die Augen, dass sich Distanz erst gar nicht aufbaut. Gauck ist ein Meister der ersten Begegnung.

Der Präsident besucht für zwei Tage Genf und ist auch an die Deutsche Schule gekommen. Nach einem kurzen Rundgang sitzt Gauck im Kreis mit dreißig Abiturienten und sagt allen sehr bald, worauf es ihm ankommt: dass sich Menschen für etwas einsetzen.

Genf - das ist die mondäne Schweizer Stadt mit viel Geld und einem schönen See, aber auch mit den Menschenrechtsorganisationen der Vereinten Nationen. Ihretwegen ist Gauck hergeflogen. Um das Thema will er sich fortan verstärkt kümmern. So sehr, dass er Sätze sagt wie: "Täte ich das nicht, dann würde ich mich nicht mehr mögen."

Vor den jungen Menschen freilich schwärmt er nicht von der Weltorganisation oder von Friedensnobelpreisträgern. Hier redet Gauck davon, wie man anfängt, sich für etwas zu engagieren. Niemand könne wissen, wo die Karriere eines Klassensprechers ende. "Aber wer beginnt, sich in der Schule, im Sportverein einzusetzen, der spürt, dass er was bewegen kann. Er lernt, sich was zuzutrauen. Und damit hat er schon gewonnen."

Vertrauen zurückerobert

Tief schürfende Sätze sind das nicht. Aber sie wirken. Gauck hängt die Früchte nicht oben in den Baum. Er zeigt auf die Kirschen, die sich am leichtesten pflücken lassen. Und er erinnert in dem Moment nicht an einen Präsidenten, sondern an einen warmherzigen Großvater, den man zu Rate zieht, wenn existenzielle Fragen große Nöte auslösen.

Nun wäre es natürlich eine radikale Verkürzung, wollte man Gauck mit seinen neun Enkeln und zwei Urenkeln einfach zum "Opa der Nation" ausrufen. Aber das Grundgefühl schwingt mit, seit er vor einem Jahr gewählt wurde. Wenn er in der Zeit etwas geschaffen hat, dann ist es Vertrauen. Vertrauen bei den Menschen und in sein Amt, also gerade dort, wo seine Vorgänger - Horst Köhler mit seinem Abgang und Christian Wulff mit seinem Sturz - viel Vertrauen verspielten.

Dass Gauck das gelingen konnte, hängt eng damit zusammen, wie er über Menschen und Probleme redet. Als die Schüler ihn nach der Bedeutung von Vorbildern fragen, macht er, was er oft tut: Er philosophiert nicht, er redet keine schlauen Sätze. Er erzählt aus der Zeit, als ihn im gleichen Alter die gleichen Fragen beschäftigt haben.

Zu feige für Heldentaten

Also berichtet er vom Tagebuch der Anne Frank und von jenem Pater Maximilian Kolbe, der im KZ für einen Juden in den Tod ging. Tief beeindruckt habe ihn das. Aber er räume ein, dass er die Frage, ob er das selbst tun könne, verneinen müsse. Er hänge zu sehr am Leben. Anders ausgedrückt: Da sagt einer offen, dass er zu feige ist für Heldentaten. Gauck legt seine eigene Begrenztheit offen, um es den Jugendlichen leichter zu machen, über sich und ihr Suchen nachzudenken.

Wer Zeuge solcher Momente wird, versteht, was diesen Präsidenten ausmacht. Ob er hier ist oder in einem Altersheim, ob er Ehrenamtliche auszeichnet oder vor Einwanderern redet - Gauck begegnet allen mit Wärme und redet auch über seine Ängste und Lernprozesse. Das schafft ein Gefühl von Verstehen, als lege er seinem Gegenüber eine wärmende Decke um die Schulter. Als er in Genf vor dem Menschenrechtsrat spricht, sind es die persönlichen Passagen, für die ihm später viele mit Handschlag danken. Das sind nur Momente aus einem Jahr Amtszeit. Aber sie zeigen im Kleinen, wie er dem Amt Würde zurückgeben konnte. Das hat wenig zu tun mit einem gravitätischen Auftreten.

Verteidiger des politischen Engagements

Dabei spielt auch eine Rolle, dass er einer Verlockung widerstanden hat. Er hat nicht getan, was viele Politiker leise fürchteten. Gauck hat sich nicht mit "den Bürgern" gegen "die Politiker" verbündet. Andere vor ihm haben das gemacht. Richard von Weizsäcker offen mit seiner Kritik an den machtversessenen Parteien; Horst Köhler eher allmählich, weil er sich mit den meisten Politikern und Medien in Berlin nicht mehr wohlfühlte.

Gauck dagegen will Politik verteidigen und kann sich in Rage reden, wenn einer etwas anderes von ihm fordert. Er weiß, dass viele so etwas gerade von ihm erhofft hatten. Deshalb erklärt er wieder und wieder, dass er keine Neben-Außen- oder Neben-Innenpolitik betreiben wolle. Und er sieht sich auch nicht in der Rolle des großen Mahners, der die vermeintlich schlechten und korrupten Politiker auf den Pfad der Tugend zurückführen müsse. "Das mag ich nicht, das will ich nicht, das werde ich nicht", heißt es in solchen Momenten.

Seine Vehemenz in dieser Frage zeigt: Das ist das zentrale Thema seines ersten Jahres. Politik, Politiker, politisches Engagement zu verteidigen. Deshalb hat er sich so geärgert, als Medien früh Äußerungen als Kritik an Kanzlerin Angela Merkel interpretierten. Mal, als er erklärte, er hoffe inständig, dass Merkels unbedingtes Solidaritätsversprechen für Israel nie getestet werde. Mal, als er betonte, man müsse den Menschen die Euro-Krise besser erklären.

Im Rückblick besteht er darauf, dass Kritik an Merkel nie sein Ziel gewesen sei. Dass er dabei ungeschickt war mit manchen Worten, gehört dann freilich auch zur Wahrheit. Vieles spricht dafür, dass seine lange angekündigte Europa-Rede aus Furcht vor derlei Interpretationen doch wenig Inspirierendes beinhaltete. Vorsicht besiegte die Lust auf Überraschungen.

Überhaupt hat das Amt ihm etwas von seiner früher so geliebten Freiheit genommen. Das kam zwar nicht überraschend, hat ihn aber trotzdem hart getroffen. Manchmal, wenn er sich besonders wohl fühlt und ins Plaudern kommt, merkt man, wie ihm die Freiheiten aus der Zeit zwischen der ersten und der zweiten Kandidatur fehlen.

Alles wird gecheckt und gegengecheckt

Damals, als er gegen Wulff verloren hatte, aber trotzdem wie ein gefühlter Präsident durchs Land reiste. Da wurde nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Da konnte es kaum passieren, dass ein unvorsichtiger Halbsatz im Internet gigantische Aufwallungen auslöste. Heute dagegen wird alles gecheckt und gegengecheckt und schon vor dem Auftritt auf Fehler oder Gefahren durchforstet.

Der Bürger Gauck, der er nach wie vor auch sein möchte, erlebt die Grenzen des Präsidenten Gauck manchmal als erhebliche Einschränkung. Ganz abgesehen davon, dass die Rituale des Amtes, ja schon die Limousine, die ihn morgens abholt, ihm die Bruchstelle zwischen dem Bürger und dem Präsidenten täglich bewusst macht.

Eine Freiheit allerdings hat sich Gauck selbstbewusst einfach genommen. Er hat sich frei gemacht von denen, die bis heute glauben, sie allein hätten ihn ins Amt gehoben. Selbst auf ihrem letzten Parteitag bejubelte sich die FDP dafür, ihn "gemacht" zu haben. Hinter vorgehaltener Hand aber herrscht dort Unmut. Zum einen, weil Gauck sich seine eigenen Leute ins Amt holte und die FDP ziemlich leer ausging. Zum anderen redet Gauck bislang oft anders, als sich das eine wirtschaftsliberale FDP-Spitze wohl gewünscht hat.

Auf einer Wirtschaftskonferenz im November sprach der Präsident Unternehmern und Managern heftig ins Gewissen, sie sollten sich angesichts der Exzesse während der Finanzkrise mehr bescheiden und nach dem Vorbild des ehrbaren Kaufmanns wirtschaften. Und in einem Interview mit der Obdachlosenzeitung Strassenfeger rief er zwar alle auf, ihr Schicksal möglichst selbst in die Hand zu nehmen; betonte aber auch, dass "höhere Steuern für Bezieher höherer Einkommen" ein legitimer Weg seien, für Arme bessere Chancen zu schaffen.

Joachim Gauck lernt seit einem Jahr mühsam, dass der Spielraum des Präsidenten Gauck oft kleiner ist als der des Bürgers. Es wird ihn aber nicht davon abhalten, eben diesen immer wieder zu testen.

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