Gasunfall in Bhopal:Die Katastrophe, die nicht vergeht

Fast 25 Jahre nach dem verheerenden Gas-Unglück im indischen Bhopal warten viele Opfer noch auf Entschädigung. Und das Areal bleibt verseucht.

Tobias Matern

Sie kann diese Nacht nicht vergessen. Die Schreie, die Panik. Und die Schmerzen. Immer wieder kommen die Bilder zurück, wie ein grausamer Film, den sie nicht abschalten kann. Auch fast 24 Jahre später nicht. Nafisa Bee erinnert sich, wie sie mit ihrem Mann in Richtung Bahnhof lief.

Gas-Unfall in Bhopal; Getty Images

Verzweifelte Kinder rennen durch die Straßen von Bhopal - bei dem Gasunfall drei Wochen zuvor starben mindestens 4000 Menschen, etwa 50.000 leiden an den Folgen des bisher schlimmsten Chemie-Unglücks.

(Foto: Foto: Getty Images)

Weg, nur weg von dieser Wolke, dachte sie. Ihre Augen schwollen an, bald konnte sie nichts mehr sehen. Ihr blieb die Luft weg. Kurze Zeit später verlor sie das Bewusstsein. Nichts an ihr schien mehr lebendig zu sein. Als die Helfer kamen, um die Toten zu bergen, wollten sie auch Nafisa Bee mitnehmen. Ihr Mann hinderte die Leichensammler daran. Sie überlebte. Nafisa Bee erzählt diese Geschichte mit mehreren Unterbrechungen. Sie setzt immer wieder neu an, will unbedingt davon berichten.

Im Dezember 1984 strömte aus der Pestizidfabrik der Firma Union Carbide im indischen Bhopal nach einer Explosion ein hochgiftiges Chemikaliengemisch aus. Es war eine der größten Industriekatastrophen aller Zeiten. 20.000 Menschen starben direkt nach dem Unfall oder an den Folgen. Und noch immer leiden Tausende Einwohner Bhopals an Lungenerkrankungen, Krebs und Unfruchtbarkeit.

Schwerste Missbildungen, zu wenig Psychologen

Babys mit schwersten Missbildungen kamen zur Welt. Viele Einwohner erblindeten. Auch Nafisa Bee ist oft außer Atem, ihre Brust schmerzt, ständig hat sie Kopfschmerzen. Bis heute fühlt sie sich nicht angemessen entschädigt. Noch immer weiß sie nicht, wie sie ihr Trauma verarbeiten soll. Die medizinische Versorgung sei mangelhaft, kritisieren Hilfsorganisationen, es fehlten vor allem Psychologen.

Nafisa Bee hat jahrelang gewartet. Nun wollte sie endlich etwas tun. Mit 50 anderen Einwohnern Bhopals lief sie bis nach Delhi. 800 Kilometer zu Fuß. Wenn die Regierung nicht zu uns kommt, kommen wir eben zu ihr, sagt sie. Sie kauern auf einem Bürgersteig mitten in der Hauptstadt, haben Decken ausgebreitet und eine Plane gespannt, um sich vor Regen zu schützen. Es ist staubig, Fliegenschwärme machen sich über das Essen her. Die Menschen aus Bhopal wollen solange hier bleiben, bis die Regierung auf ihre Forderungen eingeht. Die Opfer verlangen eine Kommission, die für ihre medizinische, wirtschaftliche und soziale Entschädigung sorgt. Und sie wollen, dass endlich die Katastrophe nach der Katastrophe beendet wird.

Niemand hat aufgeräumt nach der Explosion. Das Areal ist weiterhin übersät mit verseuchten Stoffen, die ins Grundwasser einsickern. 25000 Menschen seien davon betroffen, heißt es von den Hilfsorganisationen. Unter ihnen befinden sich Kinder wie Agay Malveya, der zum Zeitpunkt der Katastrophe noch gar nicht geboren war. In abgewetzten Jeans sitzt er auf einer der Decken im Lager.

Zuhause müsse er verseuchtes Wasser trinken, erzählt der 12-Jährige. Seine Eltern können es sich nicht leisten, Getränke im Geschäft zu kaufen. Mehr als umgerechnet ein, zwei Euro haben die meisten Familien am Tag nicht zur Verfügung. Nafisa Bees Mann betreibt eine kleine Teestube, aber das Geschäft geht nicht gut. Zwar gibt es in Indien eine wachsende Mittelschicht, aber 700 Millionen Menschen bekommen von dem wirtschaftlichen Aufschwung nichts mit. Selbst eine Tasse Tee ist für viele Luxus.

Premierminister Manmohan Singh hat inzwischen reagiert. Er schickte einen Vertrauten in das Bhopal-Lager und ließ den Opfern versichern, "im Prinzip" ihren Wunsch nach einer Kommission erfüllen zu wollen.

"So ein Fall sollte uns eine Lektion sein"

Aber bis sich nicht wirklich etwas verbessert, glaubt ihm keiner hier. Der im Bundesstaat bis vor kurzem für die Opfer von Bhopal zuständige Minister weigerte sich kürzlich im Nachrichtenmagazin Tehelka anzuerkennen, dass das Grundwasser "jenseits einer tolerierbaren Grenze" verseucht sei. Und ein anderer hochrangiger Politiker aus der Gegend sagte, die Aktivisten für Bhopal übertrieben die Angelegenheit, um weitere Spenden sammeln zu können.

Wenn Satinath Sarangi solche Aussagen hört, weiß er, dass seine Arbeit noch lange nicht beendet ist. Der Ingenieur arbeitete an seiner Doktorarbeit, als sich die Katastrophe ereignete. Er machte sich sofort nach Bhopal auf. Er dachte, er würde vielleicht eine Woche bleiben, um den Opfern zu helfen. Daraus sind 24 Jahre geworden, und vielleicht bleibt er den Rest seines Lebens. Sarangi wirft der Regierung vor, aus Angst vor wirtschaftlichen Einbußen die eigenen Bewohner zu verraten. Deshalb habe es bislang kein angemessenes Verfahren gegeben, um die Schuldfrage der Firma eindeutig zu klären. "Den Politikern ist es noch immer wichtiger, ausländische Investoren nicht abzuschrecken, als den Geschädigten zu helfen", sagt Sarangi.

Zwar einigte sich die indische Regierung mit der Betreiberfirma Ende der achtziger Jahre auf 470 Millionen Dollar Schadensersatz für Hunderttausende Opfer, die dem Gift ausgesetzt waren. Aber längst nicht alle Betroffenen haben etwas von dem Geld gesehen. Inzwischen gehört Union Carbide zur US-Firma Dow Chemicals. Sie vertritt die Ansicht, dass der Bundesstaat dafür verantwortlich sei, das Gebiet zu reinigen.

Experten weisen darauf hin, dass nach den Ereignissen von Bhopal die Politik immerhin schärfere Standards und Kontrollen eingeführt habe, um die Umweltbilanz von Firmen zu überwachen. Aber an der Umsetzung und Überprüfung hapere es noch immer, sagt Anumita Roychowdhury vom Zentrum für Wissenschaft und Umwelt in Delhi. Dabei drohten in Indien weitere Katastrophen, wenn die Konzerne nicht schärfer überprüft würden: "So ein Fall, wie er sich in Bhopal ereignet hat, sollte uns eigentlich eine Lektion sein."

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