Gastkommentar:Locker und frei

Was Kontinentaleuropäer nicht verstanden haben: Der Brexit hat auch etwas mit der langen Verfassungsgeschichte des Vereinigten Königreichs zu tun. Souveränität bedeutet vor allem, dass die gewählte Regierung möglichst viel Freiheit hat.

Von Jeremy Adler

Das Verhalten der Briten bei den Brexit-Verhandlungen wirkt von außen auf den ersten Blick hin unverständlich. Um ihr Vorgehen zu begreifen, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Verfassung des Landes, anders als etwa die der Vereinigten Staaten oder Deutschlands, nicht kodifiziert ist. Viele glauben, Großbritannien habe eine "gemischte Verfassung" im Sinne des Staatstheoretikers Niccolò Machiavelli, diese kombiniere also repräsentative Demokratie mit Aristokratie und Monarchie.

Tatsächlich jedoch ist die Lage komplizierter. Die Verfassung ist ständig im Fluss und wird immer wieder geändert, ob nun durch Brauch oder durch Gesetz. Es handelt sich also im Sinne des konservativen Staatsmannes Edmund Burke (1729-1797) um ein organisches Gebilde, das mit den Sitten des Volkes eng verwoben ist, und daher das Gegenteil von einer "kontinentalen" oder "abstrakten" Verfassung darstellt. So lässt dieses System alles zu, was das Parlament entscheidet. Das ist der oft definierte und absolute Grundsatz britischer Souveränität. Es handelt sich nicht um die Souveränität, wie man sie auf dem Festland versteht, sondern um die Freiheit der Regierung. Zwar wies der große Rechtsgelehrte Neil MacCormick vor Jahren nach, dass diese Anschauung veraltet ist, trotzdem hält man an ihr fest. Beim Kampf um den Austritt aus der EU ging es daher um den Urgrund britischer Identität: der Freiheit, wie sie 1215 in der Magna Carta auftritt. Ohne diese Freiheit kann keine britische Regierung bestehen.

Der Schriftsteller Anthony Trollope (1815-1882), Meister des politischen Romans, bemerkte dazu schlicht, die Verfassung sei, was immer die Regierung gerade wolle. Verfassungsrechtler bemerkten, dass die Briten, um diese Freiheit und die Gegensätze im politischen Leben zu vermitteln, in einer Art Zwischenbau wohnen wollen (to live in a halfway house). Diese altehrwürdige verfassungsrechtliche Tradition trägt sicher zur scheinbaren Irrationalität der Briten in Europa bei.

Die Verfassung strotzt nur so von Ungereimtheiten. Obwohl Irland ein unabhängiges Land ist, besitzen dessen Bürger Wohn- und Wahlrecht in Britannien; die Dezentralisierung der jüngsten Zeit, durch die Wales und Schottland jeweils bestimmte Vollmachten von Westminster erhielten, erfolgte asymmetrisch und zwar so, dass die Parlamente jeweils anders konstituiert sind und verschiedene Formen von Macht ausüben. Die Reform des Oberhauses ist völlig unsystematisch: Obwohl die Kammer 650 Sitze hat, gibt es insgesamt 798 Mitglieder, davon sind 92 erbliche Lords, die andern werden nach obskuren Prinzipien zum Teil von der Königin und zum Teil von einer Kommission, also vom Premierminister, ernannt. Die Richtlinien zur Ernennung der Lords sind zum Teil neueren Datums, zum Teil mittelalterlich im Sinne des längst vergangenen Ständestaats, wobei es im Haus geistliche und säkulare ("temporale") Lords gibt, die sich in der normalen Welt schon lange nicht mehr finden. An dieser kuriosen Einrichtung wird hin und wieder gerüttelt, doch wird sie dadurch nicht transparenter, geschweige denn demokratischer. Ohnehin ist die Macht der Lords begrenzt.

Tief im Unterbewussten bleibt die Schmach des armen Königs Johann

Was vom Festland aus gesehen also wie britischer Exzeptionalismus wirkt, scheint von der Insel aus betrachtet ganz normal zu sein. Die Grenze zwischen Nordirland und Irland nach dem Brexit? Kein Problem, das werden wir schon hinkriegen. Austritt aus der Europäischen Union und trotzdem Verbleib im Binnenmarkt? Das ist ja nicht anders als die gut erprobte britische Devolution. Staatsbürgerschaft nach dem Brexit? Haben wir das nicht mit Irland bestens gelöst? In den Verhandlungen zwischen Britannien und der Europäischen Union prallen zwei Weltanschauungen aufeinander. Einerseits die freie, organische Kompromissfreudigkeit der Briten, andererseits aber die abstrakte, geregelte Art der Europäer. Der Konflikt, der zum Brexit führte, hört nicht auf, nach vierzig Jahren Mitgliedschaft der Briten im europäischen System ist das gegenseitige Verständnis auf beiden Seiten des Kanals weiter gering.

Die britische Haltung bedeutet das, was man muddling through nennt, was ungefähr dem entspricht, was man im Habsburger Doppelreich als "durchwurschteln" etikettierte. Logik gilt nicht. Ähnlich betrachten die Briten ihre Vergangenheit als eine Kette glorreicher Zufälle. Das Weltgeschehen verläuft mild chaotisch, aber stets zur Verherrlichung Britanniens. Ein so kluger Kopf wie John Stuart Mill, der wichtigste britische Philosoph des 19. Jahrhunderts, lehnte Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant ab, weil deren Vorsätze zu fest, ihre Regeln zu klar seien. Dieselbe Lockerheit kennzeichnet die ganze Lebensart auf der Insel.

In Großbritannien stößt man auf Schritt und Tritt auf das Mittelalter. Daher der ständige Appell an die Magna Carta, die vor achthundert Jahren die Freiheit des Königs bändigte und dem Bürger die Freiheit schenkte. Man hat nicht vergessen, dass sich König Johann, der die älteste Verfassung der Welt unterschrieb, am 13. Mai 1213 zum Vasallen des Papstes erklären musste. Diese Entwürdigung hält Shakespeare in seinem Drama "König Johann" fest. Tief im Unterbewussten eines jeden Briten schlummert die Erinnerung an die Schmach. Am Ende von Shakespeares Drama findet sich ihre Haltung: "Dies England lag noch nie und wird auch nie zu eines Siegers stolzen Füßen liegen...". Von Philipp II. über Napoleon und Hitler bis zu Jacques Delors und seine Nachfolger in Brüssel passen die Europäer in dieses Feindbild. Wenn es etwas gibt, das die Briten verbindet, dann dies: die Freiheit des Einzelnen, die mit der Verfassung, dem Gesetz und der Krone identisch ist. Mit einem Wort: Die Briten leben von der Verfassungsfreiheit.

Jeremy Adler, 70, ist Senior Research Fellow am King's College London und Schriftsteller. Er beschäftigt sich vor allem mit Komparatistik in den Bereichen Literatur, Naturwissenschaft, Kunst und Recht.

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