Gastkommentar:Lesen statt rechnen

Die Italiener fürchten Deutschland, die Deutschen verstehen die Italiener nicht. Goethe könnte helfen.

Von Mario Fortunato

Wäre ich Angela Merkel, würde ich Goethes "Italienische Reise" in hoher Auflage drucken lassen und unter italienischen Familien verteilen lassen. Den deutschen Regierungshaushalt würde die Geste nicht zu stark belasten, aber sie könnte meine Landsleute daran erinnern, dass sich das Interesse der Deutschen an meinem Land nicht allein auf das Buchhalterische beschränkt und stattdessen historisch-kulturelle Themen ins Gespräch bringen, die weniger deprimierend wären als jene, die man auf Brüsseler Gipfeln verhandelt. Ein Geschenk zu erhalten spornt mehr an, als an seine Schulden erinnert zu werden - das Ganze könnte daher sogar die Mailänder Börse stimulieren. 2016 wird Goethes Werk 200 Jahre alt, und am Mittelmeer hat nichts mehr Zukunft als die Vergangenheit.

Ich erlaube mir diesen Vorschlag, weil ich weiß, dass der sogenannte Durchschnittsitaliener in den letzten Jahren nicht nur das Vertrauen in die EU verloren hat. Durch die Vorgänge in Griechenland verängstigt, hat er begonnen, in seinem deutschen Gegenüber einen gefährlichen Kontrolleur zu sehen, der umso verabscheuungswürdiger ist, als er den Eindruck erweckt, ebenso streng wie selbstsicher zu sein. Das heißt, letztlich, beneidenswert.

Frau Merkel sollte im Übrigen die "Italienische Reise" nicht nur verschenken, sondern auch lesen. Durch die erneute Lektüre dieses Meisterwerks der Demut würde es ihr leichter fallen zu verstehen, dass Italien gerade deswegen "frei, heiter und lebendig" ist (Adjektive, die Goethe für Neapel benutzt), weil es nur wenig zur preußischen Strenge neigt. Italien lässt sich nicht einem Charaktermodell angleichen, von dem es grundverschieden ist.

Ich will damit nicht sagen, dass die lateinischen Kulturen ihr eigenes Vermögen verprassen sollten, weil ja immer ein nördlicher Nachbarn bereit steht, sie mit seinen Ersparnissen vor dem Bankrott zu retten. Natürlich stimmt das nicht, und die Geschichte beweist es. Trotzdem sollte uns das Prinzip der Gemeinschaft - und es gibt keinen Zweifel daran, dass Europa das weltweit mächtigste Gemeinschaftsmodell ist - daran erinnern, dass die Unterschiede eine Stärke und ein Reichtum sind. Wer wüsste das besser als Goethe und der moderne deutsche Roman, von Thomas Mann bis Ingo Schulze. Literatur ist als Instrument wirtschaftlichen Kalküls wesentlich zuverlässiger als das Spread Sheet der Ökonomen.

Andererseits haben die wenig freundschaftlichen Gefühle gegenüber Deutschland ihren Ursprung in einem latenten Minderwertigkeitskomplex, der sich in der Regierungszeit von Mario Monti stärker entwickelt hat als unsere Schulden. Monti regierte von November 2011 bis Ende April 2013, exakt ein Jahr, fünf Monate und zwölf Tage, historisch betrachtet kurz, für italienische Verhältnisse aber lang. Als Monti Regierungschef wurde, hieß es, zu Recht oder Unrecht, dass Angela Merkel seinen Vorgänger Silvio Berlusconi de facto zum Rücktritt gezwungen habe. Sollte das Gerücht stimmen, kann sich die Kanzlerin meiner persönlichen Dankbarkeit sicher sein. Trotzdem hat der Vorgang die Vorstellung meiner Landsleute von Italiens Souveränität verletzt.

Darüber hinaus wurde der Professor Monti - dessen Vorliebe für graugrüne Loden das Einzige ist, woran man sich noch erinnert - in seiner Zeit als Regierungschef als verlängerter Arm Brüssels, wenn nicht gar Berlins, betrachtet. Der am häufigsten verwendete Begriff dieser Zeit lautete "strikte Sparsamkeit", der auch Frau Merkel am Herzen liegt, was die Antipathie gegen die Deutschen erklärt. Hätte man diesen so wenig lateinischen Terminus, zumindest hin und wieder, durch das Wort "Wachstum" ersetzt, um wenigstens den Menschen Hoffnung zu machen, wären die Dinge besser verlaufen. Auf jeden Fall hätte es einen besseren Anschein erweckt, und vom Anschein, von Mode und Design, leben wir Italiener.

Früher prägte der Soldat in SS-Uniform das Image, heute der deutsche Adria-Tourist

Gewiss, es gibt auch eine Vorgeschichte: etwa die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg, die notwendigerweise Hass zur Folge hatte. Aber der italienische Faschismus stand dem Nationalsozialismus an Grausamkeit in nichts nach, konnte sich im Gegenteil als dessen Vorreiter betrachten. Deshalb hat sich die finstere Vorstellung des Deutschen in SS-Uniform im Laufe der Jahrzehnte verflüchtigt und wurde von der beliebteren des deutschen Touristen an der Adria abgelöst. Deshalb wurden sowohl Gerhard Schröder als auch Angela Merkel wie einst Goethe an den italienischen Küsten willkommen geheißen.

Freilich muss man hinzufügen, dass Minderwertigkeitskomplex und Neid nicht das Ergebnis der ihrem Begriff nach unbeständigen Politik sind, wohl aber mit Geld zu tun haben, also dem Synonym für Zukunft. Die Italiener, nicht anders als die Spanier (und vermutlich auch die Griechen) beneiden die Deutschen um ihren Reichtum. Da sie ihn gerne teilen würden, sind sie auf die nordeuropäischen Vorgaben eiserner Sparsamkeit nicht gut zu sprechen. Die Antwort auf diese Ungleichheit war in den Sechzigerjahren eine massive Migrationsbewegung aus dem Süden. In jüngster Zeit ist die Migration dank des Schengener Vertrags emanzipierter und intellektueller geworden, wie die zu Tausenden in der deutschen Hauptstadt lebenden jungen Akademiker aus Italien belegen. Die Entscheidung zur Einwanderung nach Deutschland ist die andere Seite der Medaille und beweist Bewunderung, wenn nicht Sympathie: So wollte auch ich, nachdem ich immer wieder länger in Berlin lebte, der Stadt ein Buch widmen.

Man wird mir nachsehen, dass ich, von Goethe ausgehend, am Ende von mir selber spreche: Auch die Literatur hat Höhen und Tiefen. Und dem bleibt - in gebotener Ehrfurcht vor den Gesetzen des Marktes und sogar unter Berücksichtigung der Maastricht-Kriterien - nur hinzuzufügen: Ein jeder tut, was er kann.

Der Schriftsteller Mario Fortunato, 56, lebt heute, nach Jahren in London und Berlin in der Campagna Romana. Aus dem Italienischen von Jan Koneffke

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