Gastkommentar:Deutsche Leitkultur

Am 1. Juli 1948 wiesen die westlichen Siegermächte die westdeutschen Ministerpräsidenten an, eine Verfassung auszuarbeiten. So kam die Leitkultur nach Deutschland. Heute sind die Deutschen stolz auf ihr Grundgesetz.

Von Christian Bommarius

Alle reden von der deutschen Leitkultur, aber niemand erinnert sich an den Ort und den Tag - von der Stunde ganz zu schweigen - ihrer Entstehung. Am 1. Juli 1948 nahmen die elf westdeutschen Ministerpräsidenten im Verwaltungsgebäude der I.G. Farbenindustrie in Frankfurt am Main - dem Sitz des US-amerikanischen Hauptquartiers - die Weisung der drei Militärgouverneure der westlichen Siegermächte in Empfang, bis spätestens 1. September eine "Verfassunggebende Versammlung" für die künftige Bundesrepublik einzuberufen. Sie müsse eine "demokratische Verfassung" ausarbeiten, die "Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten" schaffe.

Die deutschen Teilnehmer beschrieben die Atmosphäre bei der Übergabe der "Frankfurter Dokumente" später als frostig. Die Deutschen sollten spüren, dass sie nur als Befehlsempfänger von den Militärgouverneuren empfangen worden waren. Deshalb war ihnen auch der genaue Termin erst auf mehrfaches Nachfragen, im letzten Augenblick eröffnet worden: 1. Juli 1948, 11.30 Uhr. Wie befohlen, begann der Parlamentarische Rat zwei Monate später, am 1. September, mit der Formulierung des Grundgesetzes.

So kam die Leitkultur nach Deutschland. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis sie deutsch geworden und Artikel 1 des Grundgesetzes ("Die Würde des Menschen ist unantastbar") von der Mehrheit der Deutschen geglaubt worden ist. Es ist schön, dass die Deutschen heute stolz auf die Verfassung sind. Es wäre angemessen, von Zeit zu Zeit des barschen Befehls vor 70 Jahren zu gedenken, der zu ihrer Entstehung führte. Das sollte den Lärm der Debatte um die deutsche Leitkultur ein wenig dämpfen.

Christian Bommarius, 59, ist Publizist und Träger des Heinrich-Mann-Preises 2018.

© SZ vom 30.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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