Gastkommentar:Demut

Karl-Markus Gauß

Karl-Markus Gauß, 65, ist österreichischer Schriftsteller und Essayist. Er lebt in Salzburg. Zeichnung: Bernd Schifferdecker

Nirgendwo gibt es ein solches Gedrängel an Tugendhaften wie unter den Mächtigen. Bescheidenheit ist mittlerweile eine strategische Waffe.

Von Karl-Markus Gauß

Die Finanzkrise hatte ihren Wendepunkt erreicht, von dem an die Verluste für manche schon wieder zum Riesengeschäft wurden, da ließ einer der wichtigsten Männer der Investmentbank Goldman Sachs verlauten, seiner ganzen Branche stehe es gut an, sich in "kollektiver Demut" zu üben. Mittlerweile können selbst die Verantwortlichen der Deutschen Bank nicht anders, als ihm demütig recht zu geben und sich bei den Boni für ihre Banker auf eine lumpige Milliarde zu bescheiden.

Als kürzlich in Österreich ein Landeshauptmann in den Ruhestand trat, der seine Ziele abwechselnd als leutseliger Landesvater und rücksichtsloser Machtpolitiker verfolgte, verabschiedete er sich gerührt mit den Worten, dass er mit "großer Demut" auf seine Regentschaft zurückblicke. Seine Nachfolgerin beeilte sich kundzutun, dass sie ihr Amt schon mit dem Gefühl antrete, das ihn erst überkam, als er es verließ, nämlich mit "Demut", was sonst.

Der heilige Augustinus hat sie als "Mutter aller Tugenden" gepriesen, und nirgendwo gibt es heute ein solches Gedrängel an Tugendhaften wie unter den Mächtigen. Wo immer ein Triumph gefeiert wird, ist die Demut dabei, sie schubst den Jubel zur Seite, drängt sich vor die Kamera und schlägt sich stolz auf die Büßerbrust. Einst hatte die Demut eine religiöse Haltung gemeint, die den Frommen auszeichnet, der sich klein macht vor der Größe, unermesslichen Güte und Kraft Gottes; in beeindruckender Symbolik ist das noch in der "Prostratio" zu erleben, in jenem dramatischen Moment, wenn angehende Priester sich auf den steinernen Kirchenboden werfen, demütig hingebreitet vor Gott, in dessen Hände sie ihre Existenz legen.

Längst aber will auch die Demut kein kleines Licht mehr sein, vielmehr beansprucht sie maximale Aufmerksamkeit für ihre wahre Größe. "Ich nehme die Verantwortung mit großer Demut an", so hat sich Sebastian Kurz nach seinem Wahlsieg an die Nation gewandt, und er ist wahrlich nicht der Einzige, der für sich eine gewisse Größe an Demut, eine Art von monumentaler Bescheidenheit beansprucht.

Und er ist auch nicht der Einzige, dem die Verantwortung und die Demut als rhetorisches Geschwisterpaar über die Lippen zu kommen pflegen. Es ist schon einige Zeit her, es war im Latzhosenjahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts, da hat sich kaum eine Trauer mehr ohne Wut unter die Leute gewagt; so oft wurde auf Demonstrationen und bei Diskussionen das eine zugleich mit dem anderen ausgerufen, dass am Ende von beidem nur mehr die schäbige Sprachhülse übrig blieb. Nun haben es also die Verantwortung und die Demut so weit gebracht, dass sie ohne einander nicht auskommen, und weil die Verantwortung groß ist, muss es auch die Demut sein, mit der man sich diese schultert.

Was empfinden Fußballweltmeister und Sieger eines Weltcup-Rennens? Freude, Genugtuung, reines Glück oder gar so etwas Charakterloses wie ein Gefühl des Triumphes? Mitnichten. Wer weltmeisterlich sein möchte, gleich in welcher Disziplin, hat auch ein Weltmeister der Demut zu sein. Das bläht und plustert sich auf, bis man sich nach Menschen zu sehnen beginnt, die sich noch ganz ohne routinierte Gebärden der Devotion zu freuen wagen. Doch besser hält man sich damit in der Öffentlichkeit zurück, könnte es einem doch als kaltherzig, arrogant, überheblich ausgelegt werden.

In der "Karrierebibel" wird Demut gepriesen als "enorm unterschätztes Machtmittel"

Bei so viel lauthals proklamierter Demut unter den Mächtigen, die gleichwohl ihre Positionen, Privilegien, Boni mit Zähnen und Klauen verteidigen, ist zu vermuten, dass die Bescheidenheit mittlerweile als strategische Waffe eingesetzt wird. Wer sich bescheiden gibt, von dem lässt man sich lieber beherrschen. Wo Regierungen den Sozialstaat nach und nach einkassieren, dort haben deren Repräsentanten heute glaubhaft zu bekunden, dass sie schwer an ihrer Verantwortung tragen, das Geld, das sie den einen geben möchten, leider bei den anderen einsparen zu müssen.

In einem Internetblog, der den Titel "Karrierebibel" trägt und sich herrlich schamlos zu seinem Ziel bekennt, Karrieristen all die Tricks zu lehren, die man auf dem Weg nach oben beherrschen muss, wird die Demut denn auch als "enorm unterschätztes Machtmittel" gewürdigt. Als Kulturtechnik kann man solch zweckdienliche Demut natürlich erlernen, und gerade jene sollten sich darum bemühen, die mit der alten christlichen Demut nichts am Hut haben und eines ganz sicher nicht möchten: klein bleiben und sich ergeben in das Schicksal fügen. Mit humilité hat Emmanuel Macron die Macht in Frankreich wie im Sturm erobert, und mit humility möchte Theresa May den Tories die ihre in England erhalten; es ist ein rechter Wettkampf darum im Gange, wer als Marktschreier seiner Bescheidenheit den anderen zu überbieten und aus dem Feld zu schlagen weiß.

Die List der Dialektik hat bewirkt, dass dem erbärmlichen Schauspiel diesseits wie jenseits des Atlantiks ein erbarmungsloser Gegenspieler erwachsen ist. Dessen Aufgabe ist es, die verlogene Inszenierung als Rabauke zu stören, der sich brachial zu seinem Egoismus, seiner Selbstherrlichkeit, seinem ungehobelten Charakter bekennt. Zwischen all denen, die sich als getreue Diener des Staatswesens oder als Spekulanten zum Wohle der Gemeinschaft ausgeben, stürmt er auf die Bühne, stampft herrisch auf und prahlt damit, dass es auch ganz ohne Demut geht. Sein Verstoß gegen die guten Sitten und die zivilisatorischen Normen ist eine reaktionäre und gefährliche Revolte, deren Pesthauch aber erkennen lässt, wie sehr wir uns an den einschläfernden Weihrauch gewöhnt haben.

Es ist durchaus der Erinnerung wert, dass man in der Regel nicht Milliardär wird, weil man sich jahrzehntelang in Demut übt, sondern weil einem der eigene schlechte Ruf etwas wert ist. Natürlich nur in der Regel, hier soll keine Hetze gegen die Reichen betrieben werden, vor der mein österreichischer Bundeskanzler im deutschen Fernsehen gewarnt hat. Danach fuhr er heim und beschloss mit seinem Koalitionspartner, den Langzeitarbeitslosen in aller Demut, die er gelobt und ihnen abverlangt, die Unterstützung zu kürzen.

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