Außenansicht:Toxische Wirkung des Brexit

MEINUNG

Henning Meyer, 40, ist Geschäftsführer der Social Europe Publishing & Consulting GmbH und Visiting Fellow am Centre for Business Research (CBR) der University of Cambridge.

(Foto: Henning Meyer/DG Corporate)

Die Gesellschaft in Groß­britan­nien ist gespalten - das ge­fährdet nicht nur den bri­tischen Wohlfahrtsstaat.

Von Henning Meyer

Knapp zwei Jahre liegt die Brexit-Abstimmung nun zurück. Seitdem versucht die politische Klasse des einst für seine pragmatische Politik bekannten Königreichs krampfhaft, die Entscheidung umzusetzen. Allerdings ohne bisher wirkliche Lösungen für die eklatanten Widersprüche des Prozesses anzubieten. Daher verwundert es nicht, dass die Zukunft der Landesgrenze zwischen Irland und Nordirland und die höchstwahrscheinlich negativen wirtschaftlichen Folgen des Brexits die öffentliche Diskussion derzeit dominieren. So gibt es zum Beispiel noch nicht einmal ansatzweise plausible Antworten darauf, wie das Entkoppeln von den wichtigsten Handelspartnern wirtschaftlich kompensiert werden könnte. Oder wie die vollmundig versprochenen zusätzlichen Mittel in Millionenhöhe für den chronisch unterfinanzierten Gesundheitsdienst NHS aufgebracht werden sollen. Die kurzfristig drohenden Konsequenzen des Brexit liegen also auf der Hand.

Was in der Diskussion wegen der aktuellen Dramatik bisher aber deutlich zu kurz kommt, ist eine Analyse der möglichen Langzeitfolgen, die nicht weniger als einen kompletten Umbruch des britischen Gesellschaftsmodells bedeuten könnten. Das hört sich nach Panikmache an, aber die reale Gefahr wird deutlich, wenn man sich die Bruchlinie zwischen Brexit-Befürwortern und -Gegnern, die die Gesellschaft immer unversöhnlicher in zwei fast gleich große Lager spaltet, genauer anschaut. Dann stellt man fest, dass insbesondere die Zukunft des britischen Wohlfahrtsstaates ernsthaft gefährdet ist.

Die in sämtlichen Analysen des Referendums aufgezeigten Hauptbruchlinien verlaufen entlang geografischer, demografischer und Bildungskriterien. Man kann grob sagen, dass es sich tendenziell um einen Konflikt Stadt gegen Land, Jung gegen Alt sowie Gut- gegen Schlechtausgebildete handelt. Was diese drei Konfliktlinien gemeinsam haben, bleibt in der Regel jedoch unerwähnt: Aus finanzpolitischer Sicht geht es um Nettosteuerzahler gegen Nettosteuerempfänger. Ob es nun die wirtschaftlich stärkeren Städte gegen die ärmeren ländlichen Regionen, die gut verdienenden Hochschulabsolventen gegen die bildungsfernen Schichten oder die jungen Einkommensteuerzahler gegen die älteren Rentenempfänger sind - die großen Konfliktparteien überlappen in signifikantem Umfang mit den beiden Gruppen der gesellschaftlichen Umverteilung durch das Steuersystem.

Hinzu kommt, dass der übergreifende Zusammenhalt in der britischen Gesellschaft nach dem Referendum nicht wiederhergestellt werden konnte. Die Hoffnung, dass das Resultat geschluckt wird und nach der Polarisierung durch die Kampagne wieder Normalität eintritt, hat sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, die Brexit-Lager stehen sich immer unversöhnlicher gegenüber. Es gibt tiefe Risse, die oft quer durch Familien verlaufen. Die Brexit-Befürworter argumentieren, dass die jammernden "Remoaner" das Abstimmungsergebnis endlich akzeptieren sollten. Die Brexit-Gegner andererseits laufen dagegen Sturm, dass die "Brextremists" den härtesten aller Brüche mit den europäischen Nachbarn vollziehen. Eine Annäherung lässt sich nicht erkennen, die Fronten verhärten eher immer mehr.

Diese tiefe Spaltung erodiert die notwendige Grundlage eines jeden Wohlfahrtsstaates: die gesellschaftliche Solidarität. Wenn die Vorstellungen über das eigene Leben und die Zukunft des Heimatlandes derart weit auseinanderdriften wie zurzeit im Vereinigten Königreich, dann ist es nicht mehr weit bis zu dem Gefühl, dass einen mit der anderen Gruppe nichts mehr verbindet und man sich entsprechend auch nicht mehr verantwortlich fühlt. Zieht man die finanzpolitische Komponente hinzu, könnte man deshalb überspitzt fragen, von wann an die Nettosteuerzahler, die sich ihres präferierten Lebensweges beraubt fühlen, nicht mehr für das Solidarsystem, von dem die anderen überproportional profitieren, zahlen wollen. Eine solche Entsolidarisierung wäre die logische Folge der aktuellen gesellschaftlichen Spaltung.

Die Gefahr einer emotionalen Spaltung der Gesellschaft wird oft unterschätzt

Wenn sich zudem die negativen wirtschaftlichen Konsequenzen des EU-Austritts bewahrheiten sollten, kann es in der Folge schnell wieder zu einer Situation wie nach der Finanzkrise kommen, in der harte staatliche Kürzungen durchgesetzt werden. Der britische Staatshaushalt weist immer noch ein deutliches Defizit auf, ein wirtschaftlicher Schock würde die Situation schnell wieder zuspitzen. Spätestens dann würde sich die Frage nach einer Priorisierung der Ausgaben erneut stellen und die gesellschaftliche Spaltung könnte in ihrer politischen Konsequenz die Axt an der Wurzel des britischen Wohlfahrtsstaats sein.

Diese Gefahr besteht jedoch nicht nur in Großbritannien. Es lohnt sich daher auch, über das Vereinigte Königreich hinaus auf dieses Negativszenario hinzuweisen, weil eine solche gesellschaftliche Spaltung mit schwerwiegenden politischen Konsequenzen in ähnlicher Form oder zumindest in Ansätzen auch anderswo zu beobachten ist. Seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten ist die Gesellschaft der Vereinigten Staaten so gespalten wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und auch in Deutschland wird der Ton in der öffentlichen Diskussion deutlich rauer und die politische Auseinandersetzung zunehmend polarisierter. Gerade der Begriff des "Volkswillens" wird immer häufiger verwendet, um die Gesellschaft in Befürworter und Gegner zu spalten.

Dass es einen einheitlichen Volkswillen gar nicht gibt und dass die Vokabel oft missbraucht wird, um der eigenen Meinung in illegitimer Weise Allgemeinheitsanspruch zu verleihen, bleibt dabei häufig unbeachtet. Es geht um politische Symbolik, die eine gesellschaftliche Spaltung befördert. In Großbritannien ist der Prozess bereits weit fortgeschritten, aber ein Auseinanderdriften der Gesellschaft mit der Gefahr der Entsolidarisierung ist auch anderswo erkennbar.

Die Gefahr einer langfristigen emotionalen Spaltung der Gesellschaft - zusätzlich zur sozio-ökonomischen Spaltung - wird bislang unterschätzt. Gerade auf lange Sicht kann es toxisch wirken, wenn verschiedene Gesellschaftsgruppen sich hauptsächlich über Gegensätze definieren und das Bewusstsein der Gemeinsamkeiten in den Hintergrund tritt. Dies birgt wie in Großbritannien auch die Gefahr der Verschiebung von finanzpolitischen Präferenzen - mit weitreichenden Folgen. Es steht also noch deutlich mehr als die politische Kultur und demokratische Umgangsformen auf dem Spiel, wenn der politische Diskurs in zunehmend unversöhnliche Gegensätze entgleitet.

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