Gastbeitrag:Zwei + zwei = wir

In kaum einem anderen Land wird die Zahlenscheu so gefeiert wie in Deutschland. Der ganze MINT-Bereich gilt immer noch als Nerd-Landschaft. Dabei beherrscht die Mathematik längst unser Leben.

Von Christian Hesse

Vor 200 Jahren wurde Ada Lovelace geboren. Sie war die Tochter des berühmten englischen Dichters Lord Byron, der die Familie bald nach Adas Geburt verließ. Ihre mathematikbegeisterte Mutter, die eine Abneigung gegen die poetisch-lyrische Denk- und Wesensart ihres Ex-Ehemanns entwickelt hatte, achtete auf eine mathematisch-naturwissenschaftlich ausgerichtete Ausbildung für ihre Tochter. Eine Art innerfamiliärer Kulturkampf.

Ada Lovelace arbeitete später mit dem Ingenieur Charles Babbage an der Entwicklung einer Rechenmaschine und schrieb dafür das erste Computerprogramm überhaupt. So wurde sie zur Urmutter der mathematischen Computerwissenschaft, einer Disziplin, die heute bei uns sehr stark von Männern dominiert ist. Nur rund 20 Prozent der Informatik-Studierenden sind weiblich.

Ein nicht unwesentlicher Grund dafür ist, dass der ganze MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) landläufig immer noch das Image hat, hauptsächlich von Nerds bevölkert zu sein, jenen dick-bebrillten, unmodisch gekleideten, vertrottelten Sonderlingen. Es ist ein Etikett, das angeheftet zu bekommen von jungen Frauen noch mehr gefürchtet wird als von jungen Männern. Die damit klischeehaft in Verbindung gebrachten Eigenschaften sind zwar überdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten, aber soziale Minderkompetenz, Kontaktarmut und Weltfremdheit. So will man natürlich nicht sein oder werden.

Diese Art von stereotypischem Denken trifft bei uns besonders die Mathematik. Nirgendwo sonst begegne ich als Mathematiker so häufig Menschen, die damit kokettieren, von Mathematik keine Ahnung zu haben und unverhohlen sogar stolz darauf sind. In Frankreich, Skandinavien, Indien, den USA und anderen Ländern ist dieses Brüsten mit Mathematikunkenntnis auf Partys, in den Medien, im Alltag verpönt.

Schon Goethe polemisierte gegen Formeln und Berechnungen

Bei uns dagegen ist das Phänomen ziemlich alt. Schon Goethe hat sich als "zahlenscheu" bezeichnet und hatte einen regelrechten Hass auf die Mathematik und viele Mathematiker. Sein Satz "Dass aber ein Mathematiker, aus dem Hexengewirre seiner Formeln heraus, zur Anschauung der Natur käme und Sinn und Verstand unabhängig wie ein gesunder Mensch brauchte, werd' ich wohl nicht erleben" ist nicht einmal die Spitze des Eisbergs seiner Polemik.

Goethe war der Meinung, dass Experimente, die man mathematisch interpretieren müsse, nichts wert seien. Das ist eine Sicht, mit der er erkenntnistheoretisch in die Vorstellungswelt der alten Griechen zurückfiel. Dabei hatte die mathematische Methode der Naturforschung nicht erst, aber besonders mit Newton schon ihren überwältigenden Siegeszug angetreten. Mit mehr mathematischer Kompetenz hätte Goethe das einsehen können.

Warum erwähne ich das? Ganz einfach. Bei uns ist Goethe immer noch Kult. Bei der Frage, wer der bedeutendste Deutschen ist, landet er regelmäßig auf dem Spitzenplatz. Seine Fangemeinde ist riesig, auch heute noch wird zu seinem Werk jährlich regalmeterweise Sekundärliteratur produziert. Dadurch hat seine Sichtweise nach wie vor beachtlichen Einfluss.

Insofern sehe ich Goethe mitverantwortlich für die bei uns immer noch grassierende Geringschätzung mathematisch-quantitativer Kompetenz. Das muss sich dringend ändern. In einer Welt, in der es mehr Zahlen als Worte gibt, in der in fast jedem Bereich zu fast jeder Fragestellung große Datenmengen vorliegen, brauchen wir ein höheres Niveau quantitativer Bildung in unserer Gesellschaft. Wir brauchen weiter verbreitete Fähigkeiten, um in unserer überkomplexen Welt mit Zahlen, Funktionen, Daten, Statistiken umzugehen, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen, Chancen und Risiken kompetent gegeneinander abzuwägen und fundierte Entscheidungen daraus abzuleiten. Wir brauchen mehr Gauß und weniger Goethe. Wir brauchen, etwas überpointiert auf den Punkt gebracht, mehr Daten-Kompetenz und weniger Dativ-Kompetenz.

Mit qualitativ-geisteswissenschaftlichen Kompetenzen allein kann schon der ganz normale Alltag nicht mehr navigiert, geschweige denn gemeistert werden. Als notorischer Nicht-Nerd wird man bald nicht mehr zurechtkommen.

Wir alle müssen mehr zu Nerds werden, um die Ur-Nerds besser zu verstehen. Denn sie haben den Kulturkampf zwischen Romantikern und Rechnern, zwischen den qualitativ und quantitativ Befähigten gewonnen. "Seid nett zu Nerds", empfahl Bill Gates, "wahrscheinlich werden Sie bald für einen arbeiten." Denn: Die Nerds sind dabei die Welt zu erobern. Wir alle sind von den Ergebnissen ihrer Arbeit nicht nur betroffen, sondern abhängig.

Und diese Ergebnisse sind nichts weniger als beeindruckend: Für Barack Obama hat sein Team von Daten-Gurus 2012 die Präsidentschaftswahl entschieden. Über jeden Wahlberechtigten wurden mehr als 1000 Datenpunkte zusammengetragen - Geschlecht, Alter, Wohngegend, Klubmitgliedschaften, Kreditkartenkäufe und so weiter. Die Datenanalytiker wussten in vielen Fällen schon, was jemand wählen würde, noch bevor er es selber wusste.

Die Nerds verändern mit ihrer Arbeit die Gesellschaft mehr als alle Sozialwissenschaftler mit allen ihren Theorien. Bald schon werden die mit ihrem Know-how konstruierten selbstfahrenden Fahrzeuge dafür sorgen, dass weniger Unfälle im Straßenverkehr passieren, Staus der Vergangenheit angehören und motorisierte Fortbewegung stressfreier wird.

Mit der personalisierten Medizin werden sie im Gesundheitswesen bald eine neue Ära einleiten, die das Arzt-Patient-Verhältnis revolutionieren wird. Dann wird auf der Grundlage von riesigen medizinisch-pharmakologischen Datenbergen für jeden Patienten und dessen Daten-Profil aus zigtausend Laborwerten, genetischen Risikofaktoren und Symptomen eine maßgeschneiderte Behandlung vom Computer entworfen. "Daten sind das neue Gold", wissen die Daten-Analytiker schon länger. Riesige Datenberge sind wahre Goldminen. Doch die Schätze, die sie beherbergen, müssen mit komplizierten mathematischen Verfahren erst einmal gehoben werden.

Wir alle brauchen deshalb mehr quantitative Kompetenzen, um die Nerds besser zu verstehen. Und das muss schon in der Schule erworben werden. Die Lehrpläne an den Schulen müssen mehr als bisher den mathematisch-quantitativen Bedürfnissen und Herausforderungen der modernen Zeit angepasst werden. Sowie auch unsere Denkweise. Es bedeutet auch, und hier schließt sich der Kreis, dass wir Jungs und Mädchen gleichermaßen ermutigen, gut im mathematisch-technischen Bereich sein zu wollen. In unserer Gesellschaft gibt es immer noch tief verankerte Klischees, die dazu führen, dass viele Mädchen ab einem bestimmten Alter in der Schule nicht mehr gut sein wollen in diesen Disziplinen, oder später, selbst wenn sie talentiert sind, eine Laufbahn in diesen Bereichen nicht mehr in Betracht ziehen. Einfach weil sie Sorge haben, dann als unfeminin zu gelten.

Wir brauchen deshalb mehr Vorbilder für junge Mädchen in diesen Disziplinen. Wir brauchen hier mehr weibliche Führungskräfte. Vorbilder wie Ada Lovelace.

Übrigens, Ada Lovelace veröffentlichte einen Teil ihrer Arbeit in der Zeitschrift The Ladies' Diary and Women's Almanack, einer beliebten Frauenzeitschrift der damaligen Zeit mit einer beachtlichen Auflage. Sie existierte von 1701 bis 1841. Das Besondere an ihr war, dass sie sich in erheblichem Maße auch mathematisch-naturwissenschaftlichen Themen widmete. Sie versprach ihren Leserinnen "dass die Kultivierung Ihres Geistes Ihre Attraktivität erhöhen wird". In allen Ausgaben fanden sich mathematische Probleme, die mitunter recht anspruchsvoll waren. Der große Erfolg der Zeitschrift zeigt, dass selbst das vorviktorianische England, was die Stereotype gegenüber Frauen und Mathematik anbelangt, weniger rigide war als unsere moderne Gesellschaft.

Christian Hesse, 55, ist Professor an der Universität Stuttgart und lehrt dort Mathematische Statistik.

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