Gastbeitrag:Neue Leidenschaft

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Die unübersichtliche Lage in Berlin ist auch eine Chance für die Parteien. Die Unterschiede zwischen ihnen, im Wahlkampf oft vermisst, sind deutlicher geworden. Politiker sollten jetzt nicht in Wehleidigkeit oder gar Angst vor ihren Wählern verfallen.

Von Hans Peter Bull

Was zur Zeit in Berlin abläuft, ist eine neue Erfahrung von Politik. Die Sondierungen zwischen den Parteien, das Eingreifen des Bundespräsidenten, die zweite Gesprächsrunde, der Zeitverbrauch und das Scheitern eines Kompromisses - das alles hat Diskussionen ausgelöst, wie wir sie in der Bundespolitik lange nicht erlebt haben. Es ist deutlich geworden, wie schwer es ist, aus vier Parteien eine Regierung zu bilden und dass die Gründe dafür ernst zu nehmen sind: Die Unterschiede sind groß und können nicht einfach durch allgemeine Formeln überbrückt werden.

Im Wahlkampf wurden noch die Unterschiede zwischen den Parteien vermisst, jetzt sind sie auf einmal offensichtlich; in einigen Punkten sind die Parteien sogar noch weiter auseinander gerückt. Manche Unterschiede waren verschüttet, manche sind erst in der Debatte entstanden - als Kontrast zu den anderen Parteien. Wie jemand handelt, ist schwerer zu prognostizieren als früher. Es gibt aber auch die Chance für das Parlament, Gesetzgebung und Regierungskontrolle wirksamer wahrzunehmen und die Öffentlichkeit an den Beratungen stärker teilhaben zu lassen.

Die neue Parteienlandschaft ist Ausdruck einer politischen Krise, die auch durch die (seit Langem bestehende) Teilung des Volkes in gegensätzliche Meinungsblöcke verursacht wird. Das Volk ist gespalten, und es hält sich bei Protesten und Wahlen nicht an parteipolitische Vorgaben. Quer zu den Parteien äußern die Menschen ihren Unmut über Habitus und Stil führender Personen; wenn sie eine "andere Regierung fordern, meinen sie in erster Linie den Austausch des Spitzenpersonals. Leserbriefschreiber und Leitartikler wünschen sich eine "andere Politik"; darunter verstehen manche eine strikt wirtschaftsliberale Gesetzgebung und Steuererleichterungen, andere eine Abkehr von der (nicht hinreichend sozialen) Marktwirtschaft, wieder andere gleich den Ausstieg aus dem Kapitalismus. Eine neue Koalition von Union und SPD gilt der einen Hälfte der Bevölkerung als Horrorvorstellung, der anderen als ein Gebot der politischen Vernunft (weil die Kanzlerin die CDU angeblich schon sozialdemokratisiert habe). Über den Klima- und Umweltschutz wird auch innerhalb der Parteien gestritten. Eine andere Front der Auseinandersetzung ist noch bedeutsamer: Wer Flüchtlinge nach den gleichen humanitären Maßstäben behandeln will wie einheimische Hilfsbedürftige, sieht sich einem Teil des Volkes gegenüber, der in erster Linie Abschirmung vor Geflüchteten will.

Politik weckt also wieder die Leidenschaft, das Engagement der Menschen. Demokratie wird wieder interessant - auch für diejenigen, die über die Unbeweglichkeit der bisherigen Politik geklagt und sich resigniert abgewandt haben. Die Menschen in den Parteien, die schon lange für Reformen streiten, haben Grund zur Genugtuung. Aber ihre Aufgabe bleibt schwer, vielleicht sogar teilweise unlösbar. Die Spaltung des Volkes wird auch durch den neuen Schwung nicht überwunden werden. Etwaige Neuwahlen werden keine eindeutige Entscheidung bringen; dafür sorgt schon das Verhältniswahlrecht, das die Aufsplitterung der Volksvertretung in kleine Gruppen fördert, Koalitionsaussagen aber gerade nicht generiert. Das Mehrheitswahlrecht, das den regelmäßigen Machtwechsel fördert, wird von niemandem propagiert. Dass unter dem geltenden Wahlsystem künftig eine der großen Parteien allein regieren kann, ist unwahrscheinlich.

Sich in der Opposition erholen zu wollen, ist ein Luxus, der teuer werden kann

Erst recht ist nicht zu erwarten, dass eine Minderheitsregierung die Unzufriedenen zufriedenstellen und die Lage befrieden könnte. Größere Reformen setzen stabile Mehrheiten voraus. Und die neue Lebendigkeit des parlamentarischen Lebens, die mit einer Minderheitsregierung verbunden sein dürfte, ist wahrlich keine Garantie für effektive Reformen. Die notwendige Stärkung des Parlaments muss auf andere Weise angestrebt werden als durch die Spannung, die mit wechselnden Mehrheiten verbunden ist.

Bei aller Parteienverdrossenheit sind daher gerade die Parteien gefordert, das Heft in die Hand zu nehmen, ihre Interessengegensätze so weit wie möglich auszugleichen, ihre gegenseitige Abneigung zu überwinden und neue Bündnisse zu schließen - sei es für die Regierungsbildung, sei es für die Opposition. Es genügt nicht, das Gute energisch genug zu wollen, man muss es auch buchstabieren, also Instrumente und zu erwartende Folgen genau benennen - einschließlich der Nachteile, die man Teilen der Bevölkerung zumuten muss, um anderen zu helfen. Und wenn zwei oder drei Parteien genügend Gemeinsamkeiten entdecken und eine Mehrheit haben, die ihnen die Bildung einer zuverlässigen Regierung ermöglicht, sollten (und werden) sie sich verbünden. Was nicht gemeinsam erledigt werden kann, muss ausgeklammert werden. Die Ablehnung einer "großen" Koalition nur deshalb, weil sie die beiden größten Parteien umfasst oder weil sie schon länger zusammen regiert haben, ist kein Zeichen von Glaubwürdigkeit, sondern von Kleinmut.

Erneuerung ist auch in traditionellen Koalitionen möglich; sich erst einmal in der Opposition zu erholen, ist ein Luxus, der teuer werden kann. Im Privatleben mag sich schmollend zurückziehen, wer seine Wünsche nicht durchsetzen kann. In der Politik ist das nicht erlaubt. Zwar wird niemand dafür bestraft, wenn er eine Kooperation verweigert, die nicht das ganze eigene Programm umfasst. Aber wer die Chance vergibt, einen Teil seiner Ziele zu verwirklichen, wird wenig Beifall finden. Gefordert sind Klarheit und Wahrheit des politischen Handelns, nicht Wehleidigkeit oder Angst vor den Wählern.

Politik ist mehr als nüchterne Kalkulation; die Wahl einer politischen Führung ist mehr als die Bestellung des Vorstands einer Aktiengesellschaft. Demokratische Politik darf aber auch nicht zu einer Unterhaltungsveranstaltung verkommen. Sie lebt von den Emotionen der Menschen, aber ohne Vernunft wird alles misslingen.

Hans Peter Bull, 81, war erster Bundesbeauftragter für den Datenschutz und Innenminister von Schleswig-Holstein.

© SZ vom 02.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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