Gastbeitrag:Kinder machen

Gastbeitrag: Andreas Bernard, 48, ist Professor für Kulturwissenschaften an der Leuphana-Universität Lüneburg.

Andreas Bernard, 48, ist Professor für Kulturwissenschaften an der Leuphana-Universität Lüneburg.

Vor 40 Jahren wurde das erste Kind im Labor gezeugt. Die Angst vor dieser Technik ist dem Zwang zur Fruchtbarkeit gewichen. Statt Retortenbaby heißt es heute Wunschkind.

Von Andreas Bernard

Als 1978 das erste außerhalb des Mutterleibs gezeugte Kind zur Welt kommt, Louise Brown in einem Krankenhaus im nordenglischen Oldham, sind die öffentlichen Reaktionen weltweit von Unbehagen und Skepsis geprägt. Mit dem Verfahren der In-vitro-Fertilisation, das der Embryologe Robert Edwards und der Frauenarzt Patrick Steptoe nach jahrelanger, von etlichen Rückschlägen geprägter Forschungsarbeit zur erfolgreichen Anwendung bringen, sehen die Kommentatoren den Kern des Humanen bedroht.

Der Aspekt der Sterilitätstherapie steht in der öffentlichen Debatte viele Jahre lang völlig im Hintergrund. Beherrschend ist vielmehr die Frage, ob die Erzeugung von Leben außerhalb des Körpers grundsätzlich zulässig sei, welche Gefahren und Unzulänglichkeiten dieser Akt für das Kind, die Beziehung der Eltern zueinander und das Menschenbild einer Gesellschaft heraufbeschwöre. Wenn man sich die Presseberichte, Parlamentsdebatten und sozialwissenschaftlichen Studien zur In-vitro-Fertilisation in Deutschland zwischen 1978 und der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes 1990 ansieht, ist der Schwerpunkt der Beiträge klar zu bestimmen: Zuallererst geht es um die Sorge, dass die Reproduktionsmedizin das Gut des Lebens in ein technisches "Produkt" verwandle, unabhängig von der körperlichen Vereinigung zweier Menschen.

Diese Sorge verbindet ansonsten unvereinbare politische Lager - Feministinnen und Kirchenvertreter, alternative und konservative Parteien. Metaphern der Dehumanisierung prägen die Argumentation: Die extrakorporale Zeugung bringt Erinnerungen an jahrhundertealte, von der Literatur und Mythologie durchgespielte Imaginationen des künstlichen Menschen hervor, die sich nun zu verwirklichen scheinen. Hinweise auf Mary Shelleys "Frankenstein" von 1818 und Aldous Huxleys 1932 erschienene Dystopie "Schöne Neue Welt" fehlen in kaum einem Beitrag.

Vierzig Jahre später erscheinen diese Warnungen und historischen Verbindungslinien als übertriebene, fremd gewordene Reaktion. Befruchtung außerhalb des Mutterleibs hat sich, wie die jüngsten Rekordzahlen des Deutschen IVF-Registers bestätigen, von einer als bedrohlich empfundenen Prozedur zu einer bloßen Variante der natürlichen Empfängnis gewandelt. Als neues Leitmotiv der öffentlichen Debatte prägt sich seit den frühen 1990er-Jahren die Last der individuellen Unfruchtbarkeit heraus - und erneut ist es der Name der auf diese Weise gezeugten Kinder, an denen sich die kollektive Wahrnehmung ablesen lässt: An die Stelle des Wortes "Retortenbaby", dessen Gebrauch aus Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Publikationen verschwindet, ist nun viel vom "Wunschkind" der unfruchtbaren Paare die Rede. Im Wandel der Begriffe offenbart sich also der veränderte Blick auf die Reproduktionstechnologien: von der Betonung des Künstlichen zur Sehnsucht der Betroffenen, von der Perspektive der maßlosen Forschung zur Perspektive der erhofften Heilung.

Doch was bedeutet es für die assistierte Empfängnis, dass sie im kollektiven Bewusstsein nicht mehr als prekärer künstlicher Eingriff erscheint, sondern als reine Hilfsmaßnahme zur Behebung von Kinderlosigkeit? Mit dieser Umstellung ist seit den Neunzigerjahren ein neuer Imperativ der Fruchtbarkeit verbunden. In dem Maße, in dem Eileiterblockaden oder untaugliche Spermienqualität als weitgehend bezwingbare Erkrankungen gelten, löst sich die jahrtausendealte medizinische Tatsache der Sterilität in der öffentlichen Wahrnehmung auf. Beinahe jedes heterosexuelle Paar unter 40, so das Versprechen der Reproduktionsmedizin, kann ein leibliches Kind bekommen, solange es nur alles dafür tut. Fruchtbarkeit gilt - wenn sie nicht ohnehin problemlos gegeben ist - inzwischen als Effekt persönlicher Einsatzbereitschaft und Wahl.

Die Schreckensvisionen Aldous Huxleys, nach 1978 viele Jahre lang das prägende Vorbild der Kritik assistierter Empfängnis, spielen heute keine Rolle mehr. Im Zukunftsstaat der "Schönen neuen Welt" wurde die fabrikmäßige Entstehungsweise der Menschen noch zwangsläufig mit einer totalitären politischen Instanz zusammengedacht. Wo Kinder in Gläsern und unabhängig vom Liebesakt gezeugt werden, so Huxleys Grundannahme, kann sich keine freie, auf Selbstbestimmung gründende Gesellschaft entwickeln. Die Reaktionen auf die ersten IVF-Geburten folgten dieser wie selbstverständlichen Kopplung von künstlicher Empfängnis und sozialer Nivellierung - doch die weitere Geschichte der Reproduktionstechnologien hat gezeigt, dass Aldous Huxley und seine Gefährten falsch lagen. Heute ist genau die entgegengesetzte Entwicklung zu erkennen: Die Zeugungsweise der Embryonen hat sich zwar auf eine Weise standardisiert, wie sie Huxley vorausgesehen hat, aber diese Standardisierung geschieht nicht auf Anweisung einer despotischen Regierung, sondern in aller Freiwilligkeit und im Namen des biografischen Schicksals unfruchtbarer Paare.

Wie weit diese gegenwärtige Perspektive auf das Verfahren von den kritischen Anfängen entfernt ist, lässt sich am deutlichsten dadurch belegen, wie unterschiedlich die Öffentlichkeit auf die 25 Jahre voneinander entfernten Todesnachrichten der beiden IVF-Pioniere reagiert hat. Als der 74-jährige Patrick Steptoe im März 1988 starb, lauteten die ersten Sätze eines Nachrufs im Spiegel wie folgt: "Er sei weder ein Zauberer", erklärte der britische Gynäkologe einmal, noch ein Doktor Frankenstein. Am Tag, als Louise Joy Brown geboren wurde, war Steptoe beides: für die Eltern des ersten "Retortenbabys" ein Zauberer, für Kritiker der Laborbefruchtung "ein Frankenstein". Genau ein Vierteljahrhundert später, am 10. April 2013, beginnt die Online-Ausgabe des gleichen Magazins die Meldung vom Tod des Nobelpreisträgers Robert Edwards mit den Worten: "Mit der künstlichen Befruchtung erfüllte Robert Edwards Millionen Menschen den Wunsch nach Kindern."

Von der Gefährdung der Menschennatur zum karitativen Akt: In diesen beiden Nachrufen ist der ganze Bogen aufgespannt, den die Geschichte der In-vitro-Fertilisation seit Louise Browns Geburt bis zum diesjährigen Jubiläum durchlaufen hat.

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