Gastbeitrag:Der Zar

Gastbeitrag: Ljudmila Ulitzkaja, 75, ist eine der bekanntesten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie engagiert sich in der Opposition gegen Wladimir Putin.

Ljudmila Ulitzkaja, 75, ist eine der bekanntesten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie engagiert sich in der Opposition gegen Wladimir Putin.

Wladimir Putin wird nächste Woche Montag erneut als Präsident vereidigt. Die Liebe zum Herrscher ist in Russland tief verwurzelt.

Von Ljudmila Ulitzkaja

Die Liebe zum Herrscher ist in Russland tief verwurzelt. Unser Land war so lange ein Imperium, dass der Geist der Überlegenheit über alle anderen Länder, die Verherrlichung der eigenen Größe und Macht gegenüber der restlichen Welt unausrottbar ist. Geringfügige Änderungen betreffen nur die Formen, in denen sich die obligatorische Liebe zum obersten Herrscher, dem Väterchen Zar, ausdrückt. Dieses archaische Modell haben nicht die Russen erfunden, aber in Russland hat es Fuß gefasst, sich eingebürgert und gefestigt. Die Monarchie endete 1917, blutig und hässlich, mit der Ermordung des Zaren und seiner Familie, und dann begann die lichte Ära des Aufbaus des Sozialismus.

Auf die Verehrung des Zaren folgte relativ rasch die Verehrung des Führers - des unabsetzbaren, gepriesenen, vergötterten. Für die Machtübergabe in einem nicht dynastischen System gab es noch kein festes Prozedere. Sie sollte auf demokratischem Wege vollzogen werden, doch das funktionierte nicht. Schon Lenin hatte kein rechtes Vertrauen in die demokratischen Prinzipien und verfasste 1923 ein Dokument, in dem er die herrschende Parteiführung vor der Wiederwahl Stalins warnt, der damals bereits Generalsekretär der Partei war, im Grunde also der mächtigste Mann im Staat. In seinem Testament verweist Lenin auf Stalins Grobheit und andere negative Charaktereigenschaften und versucht noch kurz vor seinem Tod, Einfluss zu nehmen auf die Wahl seines "Thronfolgers".

Stalin hatte aufs Grausamste ein System des Personenkults geschaffen

Stalin, nach Lenins Tod erneut ins höchste Parteiamt gewählt, wurde im Laufe weniger Jahre zum allmächtigen Herrscher des Landes, unterdrückte jede Kritik aufs Grausamste und schaffte damit das System, das später "Personenkult" genannt werden sollte. Kein ägyptischer Pharao, kein römischer Kaiser wurde so umfassend verherrlicht: In Russland wurden Hunderttausende Skulpturen aufgestellt, vor jedem Kuhstall stand ein Götze aus Stahlbeton. Die Bronze hätte nicht für alle Denkmäler gereicht.

Nach Stalins Tod herrschte deshalb große Verwirrung: Wen sollte der einfache Mensch von nun an innig und leidenschaftlich lieben? Aber auch Stalin hatte ja anfangs im Schatten des großen Lenin gestanden. Als die Zeit reif war, nahm er nicht nur dessen Platz ein, sondern versah diesen obendrein mit einem mächtigen mystischen Heiligenschein. Und als er starb, gab es niemanden, dem diese funkelnde Krone gepasst hätte. Zumal Stalin unter anderem mittels Eispickeln dafür gesorgt hatte, dass niemand heranwuchs, der dieser Krone würdig gewesen wäre.

Wer hätte nach Stalin also den hohen Thron besteigen können? Etwa Chruschtschow? Auf Chruschtschow folgten andere, die ebenso wenig zur Sakralisierung taugten. Selbst Michael Gorbatschow und Boris Jelzin war die Liebe des Volkes nicht vergönnt! So schmachtete die Liebe des Volkes ohne würdiges Anbetungsobjekt. Fast ein halbes Jahrhundert nach Stalins Tod kam es schließlich zu einer denkwürdigen Machtübergabe: Jelzin, der erste Präsident des in die Demokratie aufgebrochenen Russland, ernannte seinen Nachfolger - gegen Zusicherung der Immunität für sich selbst und seine Familie. Diese Zusicherung erhielt der ehemalige Parteifunktionär und ehemalige Präsident vom ehemaligen Oberstleutnant des KGB, Wladimir Putin.

So kam nach einer Reihe zweifelhafter, undefinierbarer, der Liebe des Volkes unwürdiger Personen endlich der richtige Mann. Mit stahlhartem Blick, ausgeprägtem Bizeps und Trizeps und vor allem mit harter Hand. Ein Angler, Sportler und Jäger, ein echter russischer Macho. Und alles fügte sich: Die Liebe des Volkes hatte ihren Helden gefunden. Die 76 Prozent bei der letzten Wahl sind möglicherweise etwas geschönt, aber nahe an der Realität. Im Laufe seiner fast zwanzig Regierungsjahre hat Putin eine beachtliche Entwicklung durchgemacht, wobei er auf die Gewohnheiten seines früheren Berufs zurückgriff: Misstrauen, Verschlossenheit, das Bewusstsein, über dem Gesetz zu stehen, und vollkommene Geringschätzung des noch eben Gesagten.

Im letzten Jahrzehnt festigte sich das "Bild des Präsidenten" - eine Evolution, die eher als "Involution" bezeichnet werden sollte, wie die Biologie eine Rückwärtsentwicklung bezeichnet. Und Putin wird die Macht nicht freiwillig abgeben. Ich persönlich werde also mein Leben unter seiner Herrschaft beenden, wenn keine Katastrophe geschieht. Eine Katastrophe wünsche ich mir auch nicht, und ein Machtwechsel würde in der heutigen Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Blutvergießen führen. Darauf beruht meiner Ansicht nach auch die breite Unterstützung des jetzigen Präsidenten durch die Bevölkerung. Nach Meinung der Mehrheit sorgt er für Stabilität - eine imaginäre Stabilität, wie die Lage in Syrien zeigt.

Die Geschichte der Herrschaft des jetzigen Präsidenten erinnert mich an E. T. A. Hoffmanns Meistererzählung "Klein Zaches genannt Zinnober". Das "böse Alräunchen" wird dank seiner Zauberhaare von jedermann für hübsch, klug und gütig gehalten. Die Funktion der Zauberhaare übernimmt die gut geschmierte Informationsmaschinerie der Regierung: Alles Gute, von wem es auch kommt, wird den Vorzügen und Tugenden des Präsidenten alias Klein Zaches zugeschrieben, all seine schlechten Taten werden anderen angelastet.

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