Fußball-Bundesliga:Das Land wird wieder die Tyrannei der Bayern beklagen

Fanprotest

Aus Protest gegen Montagsspiele werfen die Mainzer Ultras Klopapierrollen auf das Spielfeld.

(Foto: dpa)

Denn die Langeweile an der Tabellenspitze und der Untergang von Tradition empört Fans. Doch die Liga behält trotz sportlicher Enttäuschung ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft - als Seifenoper, die Menschen verbindet.

Kommentar von Philipp Selldorf

Am kommenden Wochenende könnte sich in der Fußball-Bundesliga das Schicksal des Hamburger SV vollenden. Wenn nicht etwas Unerwartetes geschieht, dann wird der einzige Verein absteigen, der seit 1963 stets der Bundesliga angehört hat. Diese Aussicht ruft im traditionsbewussten Stammpublikum widersprüchliche Verhaltensweisen hervor. Einerseits wird beklagt, dass neureiche Vereine wie Leipzig, Wolfsburg oder Hoffenheim den alteingesessenen Klubs die Plätze wegnehmen, andererseits bricht überall in den Stadien Jubel aus, wenn der HSV ein Tor kassiert. Womöglich wird am Wochenende also Folgendes passieren: Sobald die Häme über den Absturz des Dinosauriers HSV ausgekostet ist, wird man darüber schimpfen, dass die Liga wieder einen Teil ihrer Identität verloren hat.

Kulturpessimistische Betrachtungen provoziert die Liga schon immer. Das war schon so, als die spärlichen Fernsehbilder noch schwarz-weiß waren und die Fußballer unerhörterweise Geld für ihre Dienste haben wollten, und das war vor 25 Jahren so, als das Kommerz-TV Besitz ergriff vom deutschen Lieblingsspiel. Damals hieß es, die Dauerübertragungen machten den Fußball zum billigen Konsumartikel. Als dann die Gagen der Spieler zu Millionenbeträgen wuchsen und in den Fankurven der Schmähruf von den "Scheißmillionären" zu hören war, erkannten manche Experten: Jetzt sei die Entfremdung zwischen Fan und Fußballer nicht mehr aufzuhalten und der Anfang vom Niedergang gekommen. Es blieb ein Irrtum.

Sportlich war es eine traurige Saison

Mit dem Trend zur Gigantomanie hat sich die Gemeinde trotz regelmäßigen Unwohlseins arrangieren können. Dennoch scheint die am Samstag zu Ende gehende 55. Bundesligasaison in dieser Entwicklung einen besonders kritischen Punkt zu markieren. Die Branche selbst muss sich zur Häufung von Krisensymptomen bekennen. Sie schädigen den Betrieb in sportlicher wie ideeller Hinsicht.

Sportlich war es eine nahezu traurige Saison. Während die übermächtigen Bayern den sechsten Meistertitel nacheinander vereinnahmten und dieses Nichtereignis mit einem Glas Champagner im Stehen angemessen zügig abfeierten, nervte der Rest der Liga die Zuschauer durch mehrheitlich destruktive und fast vorsätzlich freudlose Spielweise. International gaben die Vereine aus dem Land des Weltmeisters ein peinliches Bild ab. Bloß die Bayern blieben im Europapokal bis zum Halbfinale übrig, was die Demütigung nicht besser macht, im Gegenteil.

Außer am eigenen Fußball leidet die Liga auch am Statusverlust. Ausländische Stars liefen davon, notfalls indem sie wie die Dortmunder Dembélé und Aubameyang in Streik traten. Währenddessen rebellierten die Fans gegen Neuerungen: gegen den ausgelagerten Spieltag am Montag, den die Puristen als Exzess der Kommerzdiktatur geißeln, und gegen den Videobeweis, der mehr Gerechtigkeit bringen sollte, aber bloß noch mehr Ärger produzierte, zum Beispiel einen Elfmeter, der in der Halbzeitpause verhängt wurde.

Schließlich gab es noch den ideologischen Richtungsstreit um die Preisgabe der Schutzklausel 50+1, welche die Beschränkung von Investorenanteilen regelt. Mit dem Sieg der Konservativen, die das Statut bewahren wollen, ist das letzte Wort wohl nicht gesprochen. Dabei braucht die Liga eigentlich nicht mehr Kapital. Auch sie profitiert vom weltweiten Boom des Spiels, der auf den Spieler- und Transfermärkten eine Hyperinflation ausgelöst hat. Gagen und Ablösen sind grotesk gestiegen, namenlose Verteidiger werden teurer gehandelt als neue Hochhausbauten in Spitzenlagen. Das viele Geld von Fernsehen und Industrie hat der Liga aber nicht mehr Wettbewerb gebracht. Und wahrscheinlich ist es ein Irrglaube zu meinen, dass die Aufhebung der 50+1-Regel Investoren in die Liga holt, die dazu verhelfen, den FC Bayern einzufangen. In Wahrheit kann die geschäftsschädigende und verzweiflungswürdige Dominanz des FC Bayern wohl nur der FC Bayern selbst brechen, mit eigenen Fehlern.

All diese bedrohlichen Phänomene haben der Konjunktur der Liga bislang nichts anhaben können. Hier und dort gab es auf den Tribünen leere Sitzschalen, doch die Auswirkung auf Besucherzahlen und Einschaltquoten ist marginal. Fast 460 000 Zuschauer kamen zum vorletzten Spieltag, und an den meisten Schauplätzen herrschte versöhnliche bis rührselige Stimmung. Drei Monate Sommerpause stehen bevor, da nimmt man herzlich Abschied von der Liga.

"Der Gott des Geldes verschlingt alles"

In Köln drehte die Absteigermannschaft eine Ehrenrunde, überall in den Stadien wurden verdiente Spieler unter Tränen in den Ruhestand entlassen. "Der Gott des Geldes verschlingt alles", hatte der Freiburger Trainer Christian Streich im vorigen Sommer zu Neymars 222-Millionen-Euro-Wechsel von Barcelona nach Madrid ausgerufen, als wäre er Prediger des Weltuntergangs. Er setzte damit das Stichwort des Jahres; die bösartigen Wucherungen im Profifußball schienen endgültig entlarvt zu sein. Doch die alten Seifenoper-Mechanismen funktionieren bis auf Weiteres.

Man mag angesichts des Transferwahnsinns nicht mehr wissen, wo welcher Spieler gerade unter Vertrag steht (die Besten spielen immer beim FC Bayern), aber die Liga bietet mit ihren Gerüchten und Skandalen, ihren Geschichten von Aufstieg und Fall eine niemals endende Erzählung. Sie erhält der Bundesliga ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft, als Veranstaltung, die Menschen über alle sozialen Grenzen hinweg verbindet. Eine sinnstiftende Alternative ist nicht in Sicht.

Auch im nächsten Jahr wird das Land wohl wieder die Tyrannei der Bayern beklagen - und jedes Bayern-Auswärtsspiel wird wieder ausverkauft sein. Letztlich ist es in Frankfurt, Bremen, Augsburg oder Gelsenkirchen ohnehin nicht so wichtig, wer Meister wird - wichtig ist, wie der eigene Verein spielt. Und der HSV hat vermutlich ohnehin ganz andere Sorgen.

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