Für fast jeden etwas:Die neuen Volksparteien

FDP, Linke und Grüne haben breitgefächerte Programme, sie gewinnen Wähler aus allen Schichten und Gruppen der Gesellschaft - und sind damit Volksparteien.

Heribert Prantl

Von Wahl zu Wahl wird es schwerer, von Volksparteien zu reden. Aus diesem Wort, in dem Größe, Masse, Macht und Allzuständigkeit stecken, ist eher eine Selbstbezeichnung der Parteien geworden. Die CDU/CSU schmückt sich gern mit dem Wort, und die SPD möchte sich, trotz gewaltiger Verluste, noch immer damit schmücken. Das Wort ist wie ein Adelstitel, mit dem man sich von den anderen Parteien unterscheidet.

Nach der jüngsten Bundestagswahl stellen sich aber Fragen: Ist die SPD mit 23 Prozent der abgegebenen Stimmen noch eine Volkspartei? Wer aufgrund der geschrumpften Prozente "Nein" sagt, muss die Maßzahl benennen, die eine Volkspartei nicht unterschreiten darf. Und wer die Latte, zum Beispiel, auf 25 oder 30 Prozent legen möchte, muss der SPD den Adelstitel nehmen und ihn der CDU/CSU mit ihren 33,8 Prozent belassen. Darf man aber unberücksichtigt lassen, wie viel Volk sich hinter den Prozentangaben versammelt? Die Prozentangaben täuschen auch bei der noch relativen starken Union eine Stärke vor, die es nicht mehr gibt: Der Anteil der Wähler, die gar nicht erst zur Wahl gegangen sind, ist höher als der Anteil derer, die CDU/CSU gewählt haben - nämlich nur 33,8 von 70,8 Prozent.

Wenn die Linken in den neuen Bundesländern auf Prozentzahlen kommen, die höher liegen als die der Volkspartei CDU, sind sie dann nicht auch eine Volkspartei? Gibt es auch regionale Volksparteien? Oder widerspricht das dem Gehalt des Wortes "Volk'"? Ist eine regionale Volkspartei so etwas Ähnliches wie, um in nobilitierenden Bildern zu bleiben, der Bauernadel? Und wenn die FDP etwa in Baden-Württemberg an vielen Orten über der SPD liegt, erbt sie dann von ihr den alten Volkspartei-Titel?

Das müsste dann aber auch für die Grünen gelten, die in großstädtischen Milieus weit vorne liegen, und die dort CDU, CSU und SPD weit hinter sich lassen. Der Erkenntniswert, der im Wort Volkspartei steckt, hat sich offenbar gelockert oder gar aufgelöst. Man täte sich leichter, wenn man, wie in anderen Ländern, zu einer Partei, die national eine bestimmte Größe erreicht, einfach Großpartei sagen würde.

In der Weimarer Republik gab es gar keine Volksparteien. Jede Partei verstand sich als Partei für eine abgegrenzte Wählergruppe - die SPD war eine Klassenpartei der Arbeiter, das Zentrum war an die katholische Kirche gebunden, die Deutsche Volkspartei an das Großbürgertum und die Großindustrie. Die Großparteien der Bundesrepublik wollten für alle offen sein - die CDU und die CSU waren ganz bewusst überkonfessionell, die SPD löste sich spätestens im Godesberger Programm von ihrer Ausrichtung als Arbeiterpartei.

Man verstand sich als Partei für jeden: für jeden wählbar, und so war auch das Programm angelegt - für fast jeden etwas. Die FDP galt als Interessenpartei der Besserverdienenden, die Grünen als Partei der Ökologen und Pazifisten. Sie wurden als Interessenparteien beschrieben.

Das Parteiensystem sah also so ähnlich aus wie eine Familie. Da gab es die Großen, quasi die Erwachsenen, und da gab es die Kleinen, quasi die Kinder. CDU/CSU und SPD waren sozusagen Vater und Mutter, sie waren für das Wohl und Wehe der ganzen Familie verantwortlich. Die Kinder, also FDP und später die Grünen, kümmerten sich eher um ihre Hobbys und um ihre Freunde.

Seitdem die Großen kleiner und die Kleinen größer werden, stimmt dieses Bild nicht mehr. Die kleineren Parteien, die mittlere Parteien geworden sind, vertreten keine engen Klientel-Interessen mehr, ihre Programme sind so weitgefächert wie die der Union und der SPD - und sie finden ihre Wähler quer durch alle Schichten. Wer das Wort Volkspartei weiter verwenden will, muss es daher auch für die mittleren Parteien verwenden: für FDP, Linke und Grüne. Die im Bundestag vertretenen Parteien sind allesamt Volksparteien.

Sie sind es in einem anderen Sinn als vor vierzig oder fünfzig Jahren. Dolf Sternberger hat in der Wirtschaftswunderzeit das Wort erfunden. Das Volk von damals, das Volk, aus dem die Volksparteien stammen, gibt es nicht mehr. Es ist gewissermaßen ein anderes als damals. Die alten Organisationsloyalitäten, die damaligen Prägungen durch Gewerkschaften, Kirche, Arbeitswelt und Wertvorstellungen sind verschwunden oder viel, viel schwächer geworden. Die großen Klammern gemeinsamer Erfahrungen sind kleiner geworden. Dafür aber gibt es mehr und andere Klammern als früher. Und diese Verbindungen lösen sich auch schneller wieder.

Wenn man Parteien mit Magneten vergleicht, ist es so: Die Anziehungskraft von CDU, CSU und SPD hat nachgelassen, die Anziehungskraft der anderen Parteien zugenommen. Das ist eigentlich nicht weiter schlimm. Schlimm ist nur, dass bald ein Drittel aller Wähler in Deutschland überhaupt nicht mehr angezogen wird.

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