Fünf Jahre Occupy Wall Street:"Junge Amerikaner haben keine Angst vor Sozialismus"

Demonstrators from the Occupy Wall Street campaign march in the rain through the streets of the financial district of New York

Vor fünf Jahren zogen Demonstranten von Occupy Wallstreet durch das Finanzviertel New Yorks.

(Foto: REUTERS)

Fünf Jahre nach den Occupy-Protesten erklärt die Journalistin Sarah Leonard, wieso Linke eigentlich keine andere Wahl haben als Hillary Clinton - und warum Protest gegen Trump so schwierig ist.

Interview von Matthias Kolb, New York

SZ: Vor fünf Jahren begann die "Occupy Wall Street"-Bewegung. Kam es überraschend, dass mitten in New York Tausende den Kapitalismus kritisierten?

Sarah Leonard: Mit Occupy hatte niemand gerechnet. Uns Linken war klar, dass wir eine wichtige Aufgabe haben und die Fackel hochhalten müssen, aber in der Gesellschaft schien sich nichts zu ändern. Occupy hat uns aufgerüttelt und zu Optimisten gemacht, so ein Glücksgefühl kannten wir nicht. Die Proteste haben die Stimmung in den USA verändert, sowohl unter politisch interessierten als auch unpolitischen Menschen.

Heute wird weiter vom Gegensatz zwischen dem obersten 1 Prozent, das immer reicher wird, und den übrigen 99 Prozent geredet. Jenseits der Begriffe: Was hat Occupy bewirkt?

Seither werden Probleme wie Verschuldung nicht mehr als individuelle Fehler angesehen, sondern als etwas Kollektives. Die Leute schämen sich nicht mehr, wenn sie zehntausende Dollar Uni-Kredite abstottern, sich wegen Arztrechnungen verschulden mussten, obdachlos waren oder nur Teilzeitjobs finden. Occupy hat offengelegt, dass dahinter ein System steckt und es Millionen ebenso geht. Damals gab es die Tumblr-Website "We are the 99 per cent": Die Leute fotografierten sich mit Schildern, auf denen sie aus ihrem harten Alltag erzählten. Das war todtraurig, aber hat alle zusammengeschweißt. Als die Protestlager geräumt wurden, blieb die Überzeugung erhalten, dass man nicht allein ist.

Fünf Jahre Occupy Wall Street: Sarah Leonard, Jahrgang 1988, arbeitet beim linken Magazin The Nation und schreibt zudem für The Dissent. 2016 erschien der lesenswerte Essay-Band "Die Zukunft, die wir wollen" (Europa Verlag, 17 Euro), den sie mit Bhashar Sunkara herausgegeben hat. Darin präsentieren junge Intellektuelle und Aktivisten "radikale Ideen für eine neue Zeit".

Sarah Leonard, Jahrgang 1988, arbeitet beim linken Magazin The Nation und schreibt zudem für The Dissent. 2016 erschien der lesenswerte Essay-Band "Die Zukunft, die wir wollen" (Europa Verlag, 17 Euro), den sie mit Bhashar Sunkara herausgegeben hat. Darin präsentieren junge Intellektuelle und Aktivisten "radikale Ideen für eine neue Zeit".

(Foto: Andrew T. Warman)

Waren Sie selbst im Zucotti-Park dabei?

Ja, mit den Redakteuren des n+1-Magazins und anderen Künstlern habe ich die Zeitung "Occupy Gazette" erstellt, in der wir Texte von Journalisten sowie Reden von Aktivisten und Stars dokumentiert haben. Es gab vier Ausgaben und wir schickten Hunderte Zeitungen in andere Städte. Es wurde ja auch in Oakland, Atlanta, Philadelphia oder Boston protestiert.

Der Erfolg von Bernie Sanders als Herausforderer von Hillary Clinton hat viele überrascht. Hat dies auch mit Occupy Wall Street zu tun?

Ich denke schon, denn durch Occupy mussten sich alle mit der sozialen Ungleichheit beschäftigen - Obama, die Republikaner und die Medien konnten das Thema nicht ignorieren. Höherer Mindestlohn, strengere Auflagen für die Banken, kostenlose Unis: Sanders' Forderungen waren alle im Zucotti-Park zu hören. Dass er keine Spenden von der Wall Street und von Firmen annimmt, ist konsequent und bewundernswert. Er hat eine Bewegung geschaffen, die größer ist als er selbst.

Der "demokratische Sozialist" hat gerade die Organisation "Our Revolution" gegründet, die Druck auf Demokraten ausüben soll, progressive Politik zu machen. Jene Abgeordnete werden durch Spenden und Aktivisten unterstützt, die für Sanders' Agenda stimmen.

Das ist der richtige Ansatz, denn es braucht Druck, damit die Abgeordneten nicht nur das versprechen, was wir junge Leute wollen. Dass kein Politiker perfekt ist, sieht man an Sanders. Dessen lockere Haltung zu Waffenbesitz finde ich schlimm. Auch er hat sich unter Druck geändert. Barack Obama ist das Gegenbeispiel: Ich war skeptisch während des Hypes 2008, aber er stand für Ideen, an die viele Bürger glauben. Kaum war er gewählt, löste er die Freiwilligen-Organisation "Organizing for America" auf. Millionen Aktivisten waren nicht mehr eingebunden und hatten keine Plattform, um ihn zu drängen, keine Kompromisse mit den Republikanern zu schließen

Bernie Sanders hat im Vorwahlkampf mehr Stimmen von jungen Leuten bekommen als Clinton und Donald Trump zusammen. Warum lieben sie den 75-Jährigen?

Die Begeisterung für Bernie Sanders in den USA ist ein ähnliches Phänomen wie die Wiederwahl von Jeremy Corbyn bei der britischen Labour-Partei. Junge Leute schwärmen für alte Kandidaten, die früher Sozialisten waren, weil deren Vorschläge sinnvoll erscheinen und sie authentisch sind. Sie stehen für eine Überzeugung, für eine Haltung. Politiker wie Tony Blair oder Bill Clinton sind für meine Generation nicht attraktiv, weil ihre angeblichen "Reformen" uns ins Unheil gestürzt haben. Viele fühlen sich betrogen, oder sogar beschissen, wenn man das Wort verwenden darf. Auf der Suche nach Anführern gehen wir also eine Generation zurück.

Unter jungen Amerikanern ist das Wort "Sozialismus" kein Tabu mehr.

Ich bin 28 und meine Generation ist nach 1989 großgeworden. Wir fürchten uns nicht mehr vor dem Sozialismus, so wie unsere Eltern es im Kalten Krieg taten. Uns hat die Finanzkrise 2008 geprägt. Wir haben keine Angst vor Sozialismus, sondern vor der Wall Street. Eine Umfrage zeigte im April, dass die Mehrheit der unter-30-jährigen Kapitalismus "nicht unterstützen". Ich würde nicht sagen, dass alle überzeugte Sozialisten sind, aber sie fühlen sich definitiv vom existierenden System im Stich gelassen.

"Frauen werden gegeneinander ausgespielt"

Viele Studentinnen erzählen mir, dass sie "Bernie" toll finden, weil er genauso wütend ist wie sie. Dass die USA Mutterschutz nicht garantieren und Eltern nicht helfen, sich an ihr Baby zu gewöhnen. Ich habe oft gehört: "Ihr in Europa kriegt das hin, warum nicht wir?"

Mir geht es ähnlich: In Amerika ein Kind zu bekommen, ist die Hölle. Als Mutter sitzt du in der Falle: Entweder bleibst du zuhause oder es kostet Tausende Dollar, um wieder arbeiten zu gehen. Kinderbetreuung ist so teuer, weil es an staatlicher Infrastruktur fehlt. Was ist die Folge? Reiche Frauen beschäftigen ärmere Frauen als Nannys, die sich nicht um die eigenen Kinder kümmern können. Frauen werden gegeneinander ausgespielt, von Solidarität keine Spur.

Hillary Clinton, die gegen Sanders gewonnen hat, fordert gleiche Bezahlung und Mutterschutz. Manche Linke halten sie aber für genauso unwählbar wie Donald Trump.

Es ist dämlich, so zu tun, als gebe es keinen Unterschied zwischen den beiden. Es ist eine Tatsache, dass es für Amerikas Linke besser ist, wenn die Demokraten weiter regieren. Clinton wird eine Menge falsch machen. Aber wir können argumentieren, wieso sie nicht progressiv genug ist und was stattdessen nötig wäre. Wenn aber Trump gewählt wird, dann müssten sich alle anständigen Leute zusammentun, um ihn davon abzuhalten, verrückte Dinge zu tun. Eine wirklich linke Kritik ließe sich da kaum formulieren. Ich mag Clinton wirklich nicht und halte sie für eine Kriegstreiberin. Aber sie ist besser als Trump - und ich sage das vor allem als Frau, die sich um das Recht auf Abtreibung sorgt.

Welche Rolle spielt bei diesem Thema die Präsidentschaftswahl?

Obamas Nachfolger wird mindestens einen Richter für den Supreme Court bestimmen, vielleicht auch drei oder vier. Wenn die Konservativen die Mehrheit am Obersten Gerichtshof hätten, könnte das Recht auf Abtreibung abgeschafft werden. Das klingt nach Mittelalter, aber die Gefahr besteht.

Im Sommer haben Sie einen Essayband herausgegeben. Das Buch heißt "Die Zukunft, die wir wollen". Wie soll die aussehen?

Wir wünschen uns eine Zukunft, in der Demokratie mehr ist als nur alle vier Jahre wählen zu gehen. Wir wollen auch echte Gleichberechtigung und mehr Teilhabe in der Wirtschaft. Den Amerikanern wurde eingetrichtert, dass ihnen der Kapitalismus die größtmögliche Freiheit verschafft, doch das ist falsch. Wir fragen: Wie kann man sich als Bürger an einer Welt beteiligen, in der die Wirtschaft nicht für alle funktioniert und es nie Zeit zum Luftholen gibt - geschweige denn für Muße oder Freizeit. Dabei ist es doch genau das, was uns überhaupt zu Menschen macht.

Die Texte sind sehr unterschiedlich in ihrer Radikalität. Manche Autoren fordern die Abschaffung der New Yorker Börse, andere setzen sich pragmatisch für bessere Schulen ein oder wollen Gewerkschaften stärken.

Wir sind überzeugt, dass alle Vorschläge aus dem Buch umsetzbar sind, wenn man ihnen etwas mehr Zeit gibt. Keiner glaubt, dass uns plötzlich Flügel wachsen, wir zu einem anderen Planeten fliegen können und dort wächst Essen an den Bäumen. Nehmen wir die Beispiele Kinderbetreuung oder besseres Job-Training für Arbeiter aus der Kohleindustrie: Das hätten wir längst tun können, doch wir leben in einer radikal ungleichen Gesellschaft, in der die Anliegen der Arbeiter und der Mittelschicht kaum berücksichtigt werden; das kann jeder in einer Princeton-Studie von 2014 nachlesen.

In einem Essay wird gefordert, die Polizei abzuschaffen. Ist das Ihr Ernst?

Wir glauben nicht, dass alle Menschen plötzlich zu Engeln werden, wenn der Sozialismus eingeführt wird. Der Text bildet nur ab, was unter Aktivisten gerade diskutiert wird. Wir wollten deutlich machen, dass die Polizei heute wirklich keinen guten Job macht und an Vertrauen verliert. Das liegt aber auch daran, dass die Cops alle Probleme des löchrigen Sozialstaats lösen sollen. Man müsste ganz von vorn anfangen und darüber nachdenken, was die Polizei machen soll - und welche Aufgaben andere Teile der Gesellschaft übernehmen müssen.

Was ist heutzutage die wichtigste soziale Bewegung der amerikanischen Linken?

Fraglos ist das "Black Lives Matter" und ihr Kampf gegen Polizeigewalt und strukturelle Diskriminierung von Afroamerikanern. Dazu kann niemand schweigen, der sich für links hält. Auch hier spielt Occupy eine Rolle. Viele weiße Amerikaner haben anfangs nicht kapiert, worum es bei "Black Lives Matter" geht, weil sie alles als Klassenkampf zwischen Reich und Arm ansehen. Durch Occupy haben viele Leute gesehen, wie brutal die Cops vergehen. Dass es heute so viel Unterstützung und Solidarität mit den schwarzen Aktivisten gibt, hat einen einfachen Grund: Während Occupy wurden viele junge Leute verprügelt und ins Gefängnis geworfen - von ihrer Polizei.

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