Friedensnobelpreis:Angela Merkel hätte den Friedensnobelpreis verdient

Bundeskanzlerin Merkel besucht Flüchtlingsunterkunft

Angela Merkel lässt sich am 10.09.2015 für ein Selfie zusammen mit einem Flüchtling fotografieren.

(Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Sie sollte ihn aber nicht bekommen. Er täte der Kanzlerin nicht gut - und Deutschland auch nicht.

Kommentar von Sebastian Gierke

Am 31. August 2015 spricht Angela Merkel die mittlerweile historischen Worte: "Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das!" Am 4. September ließ die Kanzlerin die Flüchtlinge aus Ungarn über die Grenze nach Deutschland.

Diese Tage im Spätsommer 2015 waren die einschneidendsten, die folgenreichsten ihrer bisherigen Kanzlerschaft. Die Hilfesuchenden nach Deutschland zu lassen, damit hat Merkel Deutschland verändert und so viel für das Bild dieses Landes in der Welt getan, wie kaum ein Kanzler vor ihr.

Die italienische Zeitung La Stampa beschrieb sie als das "Gewissen Europas". Das Time Magazin kürte sie zur "Persönlichkeit des Jahres". Und als ein paar Wochen später der Friedensnobelpreis verliehen wurde, war die deutsche Bundeskanzlerin Favoritin.

Sie hat ihn nicht bekommen.

Wenn das Osloer Komitee heute seine Entscheidung für das Jahr 2016 bekannt gibt, dann gehört Merkel immer noch zum erweiterten Kreis der Favoriten für den Friedensnobelpreis. Und sie hätte ihn verdient.

Nicht, weil sie in einer extrem angespannten Situation Flüchtlinge ins Land ließ. Das war ein notwendiger humanitärer Akt. Doch zu dieser Entscheidung zu stehen, sie zum politischen Programm zu machen und zu verteidigen gegen Angriffe, wie sie in dieser Brutalität nie zuvor gegen sie geführt wurden, das erfordert eine Opferbereitschaft, wie sie kaum jemand dieser Kanzlerin zugetraut hätte.

Visionslos, prinzipienlos, postideologisch

Wohlfühlpolitik, visionslos, prinzipienlos, postideologisch, zögernd - und so geräuscharm wie möglich. So hat Merkel lange regiert. Die Leute ruhig halten, das hat sie als Frau ohne Eigenschaften fast immer geschafft.

Sie wechselte selten aus dem Verwaltungsmodus in den Gestaltungsmodus, lauerte auf die Schwächen ihrer Feinde und Freunde. Mit unerbittlichem Pragmatismus feierte sie Erfolge, gewann mit asymmetrischer Demobilisierung Wahlen. Je tiefergreifender Meinungskonflikte waren, desto näher lag für sie die Relativierung.

In der Flüchtlingsfrage hat Merkel nichts relativiert. Ja, die gewaltigen praktischen Auswirkungen ihrer unverrückbaren Meinung haben sie dazu gezwungen, zu handeln. Es gibt diskussionswürdige Asylpakete, bald das dritte, es gibt den diskussionswürdigen und vor allem von Merkel vorangetriebenen Flüchtlings-Deal mit der Türkei. Und Merkel will nicht einmal mehr "Wir schaffen das" sagen, um Horst Seehofers labiles Seelenheil nicht noch mehr zu gefährden.

Doch dieser Satz ist und bleibt ihr Manifest.

Merkel rückt von ihrem Standpunkt nicht ab. Trotz sinkender Beliebtheitswerte. Obwohl sie innerhalb und außerhalb Deutschlands mit ihrer Politik der offenen Grenzen ziemlich allein dasteht.

Es scheint Merkel egal zu sein, ob sie mit der Asylpolitik ihre politische Zukunft riskiert

Merkel bleibt ihrer sturen Unbedingtheit in der Flüchtlingsfrage treu. Es gibt keine nationale Lösung für das Flüchtlingsproblem, deshalb kämpft sie für ein geeintes, solidarisches Europa. Sie ließ sich mit Flüchtlingen fotografieren und es scheint ihr egal zu sein, welche Folgen das für sie hat, ob sie damit die Basis ihrer Macht zerstört, ihre politische Zukunft, ihre Kanzlerschaft aufs Spiel setzt. Eine schier unerschütterliche Gewissheit hat ihre Politik durchdrungen.

Es mag sie überrascht haben, wie schnell ihr Beliebtheitsbonus bei den Menschen aufgebraucht war. Doch gerade deshalb ist ihre Standhaftigkeit außergewöhnlich. Angela Merkel, die Überzeugungstäterin, kämpft ohne Rücksicht auf Verluste für ein Thema. Sie kämpft für die Menschlichkeit, für die Menschenrechte. Noch vor gut einem Jahr hätten diese Sätze lächerlich geklungen. Das hat sich geändert. Bei diesem Thema hat Merkel Solidarität verdient. Und die Auszeichnung aus Oslo.

"Diese Diskussion bedrückt mich"

Aus dieser Feststellung folgt aber nicht, dass Merkel den Preis auch bekommen sollte. Das Gegenteil ist der Fall.

Schon im vergangenen Jahr hatte Merkel vor der Verleihung gesagt: "Diese Diskussion bedrückt mich." Denn sie weiß: Vor allem innenpolitisch würde ihr der Preis nichts nützen. Er wäre vielmehr eine Bürde, bedeutete enormen zusätzlichen Druck. Das haben auch Willy Brandt und Barack Obama erfahren.

Eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Flüchtlingssituation wäre dann kaum mehr möglich. Wie kritisiert man unbefangen eine Friedensnobelpreisträgerin? Die notwendige Debatte über vorhandene Probleme würde erschwert, die Kluft zwischen Gegnern und Befürwortern Merkels größer. Denn die, die heute "Merkel muss weg" rufen, würden sich von dem Preis nicht umstimmen lassen. Sie kämen sich vielmehr verhöhnt vor, herausgefordert. Und die, die Merkel verteidigen, würden sich mit einem Verweis auf den Preis die nötigen Argumente sparen.

Merkel erfährt gerade, dass es auch ein Fluch sein kann, zu den sogenannten Guten gerechnet zu werden. Vor allem dann, wenn die Anderen nicht nur den Zynismus auf ihrer Seite haben, sondern es schaffen, die eigene Empathielosigkeit als einzig vernünftige Haltung zu verkaufen. Doch Empathie ist nichts, was uns einfach zustößt. Empathie beruht auf einer Entscheidung, sie ist das Produkt einer Anstrengung. Angela Merkel ist das beste Beispiel dafür.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: