Französischer Premieranwärter Ayrault: Wer Hollande die Deutschen erklärt

In der Pariser Gerüchteküche gilt Jean-Marc Ayrault als heißer Anwärter für das Amt des Premierministers. Mit seiner Deutschland-Erfahrung wird er die einflussreichste Stimme im Ohr des neuen Präsidenten sein, wenn es um die Bundesrepublik geht. Ein Kuriosum eint die beiden Männer: Beide verfügen über keinerlei Regierungserfahrung in Paris.

Joseph Hanimann

Von der Loire-Stadt Nantes führen nicht viele Wege nach Würzburg. Dorthin kam aber der Deutschstudent Jean-Marc Ayrault im Winter 1969/70 für ein Auslandssemester. Und bis heute scheint dem Politiker mit dem stets perfekten Scheitel etwas vom diskreten Charme einer unaufgeregt mitteldeutschen Standfestigkeit geblieben zu sein. Wo immer in den linken Wahlkampfreden der vergangenen Monate die Tiraden über ein "deutsches Europa" hochschlugen, trat dieser französische Sozialdemokrat, der sein Berufsleben als Deutschlehrer begonnen hatte, mit einer Mischung aus Strenge und Nonchalance relativierend dazwischen.

Jean-Marc Ayrault

Vor fünf Jahren hat Jean-Marc Ayrault die sozialistische Kandidatin Ségolène Royal tatkräftig unterstützt, 2012 machte er sich für den künftigen Präsidenten François Hollande stark.

(Foto: AFP)

Ob Ayrault nun - wie es in der Pariser Gerüchteküche heißt - ein heißer Anwärter für das Amt des Premierministers ist oder nicht - er wird jedenfalls die einflussreichste Stimme sein im Ohr des neuen Präsidenten François Hollande, wenn dieser etwas über Deutschland wissen möchte.

Ayrault kann mit der gleichen unterkühlten Selbstgewissheit von Wirtschaftspragmatik, Gesellschaftsvision und hoher Kulturambition sprechen - eine in Frankreich eher seltene Kombination. Im Parlament, wo er seit fünfzehn Jahren die sozialistische Fraktion führt, hat er sich nicht als Tribünenheld mit dem lauten, üppigen oder vernichtend kurzen Wort hervorgetan.

Am liebsten wirkt er mit der maßvollen, aber bestimmten Zurückhaltung, die den gesunden Menschenverstand auf ihrer Seite weiß. Das entspricht dem Naturell dieses zur Diskretion neigenden Mannes aus dem Loire-Tal, dem selbst in Momenten spontaner Freude noch eine Spur Griesgram im Mundwinkel hängt und dessen strenger Umgangsstil doch insgeheim idealistisch glüht.

Weltanschaulich liegt die Herkunft des Textilarbeiterkindes, für das der soziale Aufstieg noch funktioniert hat, in den Überzeugungen des Linkskatholizismus, der eine Zeitlang mit der Befreiungstheologie liebäugelte. 1971 trat Ayrault, einundzwanzigjährig, in die sozialistische Partei ein. Sechs Jahre später ließ er sich zum Bürgermeister der Kleinstadt Saint-Herblain bei Nantes wählen, setzte aber bis zu seiner Wahl 1986 ins französische Parlament seinen Beruf als Deutschlehrer fort. Das Vertrauen in die Schulen der République und in deren Vermögen, Bildung und Kultur unters Volk zu bringen, war bei den Ayraults Familientradition. Auch seine Frau hat Literatur studiert und arbeitete als Lehrerin.

Politisch durchschlagendes Kulturinteresse

Politisch schlug das aus dem Hintergrund wirkende Kulturinteresse jedoch erst durch, als Ayrault 1989 Bürgermeister von Nantes wurde. Langfristig angelegte Stadtbauprojekte, originelle Kulturinstitutionen und erfolgreiche Festivals machen die Stadt zu einer der aktivsten Regionalmetropolen Frankreichs. Dabei wird auch die Geschichtslast nicht unterschlagen. Vor einem Monat noch hat Bürgermeister Ayrault in Nantes eine Gedenkstätte zur Abschaffung des Sklavenhandels eingeweiht, von dem seine Stadt einst besonders profitierte.

Nüchtern, aber zielbewusst hat Ayrault vor fünf Jahren die Kandidatin Ségolène Royal tatkräftig unterstützt, nun François Hollande. Mit ihm teilt er das Kuriosum, keine Regierungserfahrung in Paris zu haben.

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