Frankreich:Schüsse nach der Essensausgabe

Frankreich: Dieses Foto einer Videoaufnahme zeigt die Konfrontation zwischen Flüchtlingen aus Afghanistan und Eritrea in Calais.

Dieses Foto einer Videoaufnahme zeigt die Konfrontation zwischen Flüchtlingen aus Afghanistan und Eritrea in Calais.

(Foto: AP)
  • In Calais sind die Zusammenstöße unter Flüchtlingen eskaliert. Mehr als 20 Menschen wurden verletzt.
  • Eritreer und Afghanen gingen bei einer Essensausgabe aufeinander los, es fielen Schüsse.
  • In der Hafenstadt sind mehrere hundert Flüchtlinge, die hoffen, nach Großbritannien zu gelangen.

Von Andrea Bachstein

"Die Gewalt hat ein bisher unbekanntes Ausmaß erreicht", stellte Frankreichs Innenminister Gérard Collomb fest, als er am Donnerstagabend im Hubschrauber nach Calais geeilt war. Vier junge Männer rangen dort von Kugeln getroffen mit dem Tod. Insgesamt 21 Verletzte mussten am Donnerstagnachmittag in Krankenhäuser gebracht werden, Flüchtlinge, Migranten und zwei Polizisten. Viele hässliche Szenen hat die Hafenstadt in den vergangenen zwei Jahren erlebt, weil sie Anlaufpunkt jener ist, die hoffen, von dort irgendwie nach Großbritannien zu gelangen. Aber Schüsse in eine Menge waren bisher nicht gefallen.

Afghanen und Eritreer sind am Donnerstag aufeinander losgegangen, und einer feuerte eine Waffe ab. Vermutlich Schleuser hätten geschossen, sagte der Minister, denn normale Flüchtlinge besäßen keine Waffen. Wäre die Polizei nicht eingeschritten, so Collomb, wäre es noch schlimmer ausgegangen. Die Lage für die Bürger in Calais nannte er unerträglich.

Die Welle der Gewalt begann am frühen Nachmittag nahe des Klinikzentrums am Boulevard des Justes bei einer Essensausgabe für Migranten, die vor allem Afghanen nutzen. Was eine Prügelei zwischen etwa 100 Afghanen und 30 Eritreern, die mehr als eine Stunde dauerte, ausgelöst hatte, sei unklar, berichtete Le Figaro. Sie endete jedenfalls für fünf Eritreer mit Schussverletzungen. Die Polizei fahndete nach einem 37-jährigen Afghanen.

Offenbar sprach sich die Tragödie schnell herum. Wenig später machten sich in Marck, fünf Kilometer von Calais entfernt, etwa 100 Eritreer daran, mit Eisenstangen und Stöcken auf Afghanen loszugehen, die Polizei griff ein. Gegen 17 Uhr gerieten Afghanen und Eritreer wieder aneinander, an einer Essensausgabe in einem Gewerbegebiet; sechs seien verletzt worden, meldete die Präfektur. Hunderte Polizisten waren im Einsatz, noch abends sprühten sie Tränengas.

Calais war aus den Schlagzeilen verschwunden, seit Frankreichs Regierung dort Ende Oktober 2016 mit Polizeigewalt den "Dschungel" räumen ließ, die berüchtigte Ansammlung von Zelten und Hütten, in der bis zu 10 000 Flüchtlinge unter desaströsen Umständen hausten. Aber ganz ruhig wurde es nie. Wenn auch sehr viel weniger, so kommen doch weiter Flüchtlinge, die um jeden Preis auf die andere Seite des Ärmelkanals wollen. Die Polizei versucht zu verhindern, dass neue Camps entstehen. Es ist ein Katz-Maus-Spiel, und Schleuser spielen mit. Immer wieder gab es Zusammenstöße unter Migranten. Die schwersten zuletzt im vergangenen Juli, als man 16 Verletzte zählte. Auch diesmal waren es Schlachten Verzweifelter, wobei die Rolle des Schützen zunächst noch unklar war.

Hunderte campieren im Winter im Gebüsch und unter Brücken

Etwa 800 Flüchtlinge und Migranten hielten sich derzeit in und um Calais auf, schätzen Hilfsorganisationen, Behörden gehen von 500 bis 600 aus. Es gibt aber nur etwa 200 Plätze in staatlichen Unterkünften, in denen die Leute zehn Tage bleiben können. Hunderte campieren deshalb auch im Winter im Gebüsch, unter Brücken. Helfer verteilen Schlafsäcke, Mahlzeiten, bieten Waschgelegenheiten, aber die Umstände sind extrem. Und wegen erhöhter Sicherheitsmaßnahmen sind die Chancen der Migranten schlechter denn je, in den Fährhafen zu gelangen oder auf einen der Lkws, die in Calais in den Eurotunnel nach Folkestone einfahren. Immer wieder enden solche Fluchtversuche tödlich.

Die Lage sei so angespannt, dass jede Kleinigkeit die Migranten, fast alles junge Männer, aneinandergeraten lassen könne, sagte ein Mitarbeiter einer katholischen Hilfsorganisation der Zeitung La Croix, und: "Hinter all dem steht oft die Logik eines Kriegs um Gebiete zwischen den Gruppen." Offenbar rivalisieren Schleuser um die für Migranten strategischen Plätze. Ihre Reise nach Großbritannien wäre immer illegal, weil sie in anderen EU-Ländern registriert sind und laut Dublin-Abkommen dort bleiben müssen - oder sie nie registriert wurden.

Collomb sagte in Calais, wer sich dort aufhalte, suche die Illegalität, denn jeder fände Platz in Aufnahmezentren. Von Calais gelange man nicht nach Großbritannien. Collomb appellierte auch an Hilfsorganisationen, vor allem jene, die sich geweigert hatten, Präsident Emmanuel Macron zu treffen, als der Mitte Januar in Calais war. Sie sollten angesichts der Ereignisse überlegen, ob es richtig sei, vorbei am Staat Flüchtlinge an festen Punkten mit Essen zu versorgen, weil es dort zur Störung der öffentlichen Ordnung komme. Der Staat werde binnen zwei Wochen im Stande sein, die Menschen mobil mit Essen zu versorgen.

Auch Macron hatte einigen Hilfsorganisationen vorgeworfen, sie würden Migranten "ermutigen, sich in der Illegalität einzurichten, um heimlich auf die andere Seite der Grenze zu gelangen". Collomb will nun mehr Polizei nach Calais schicken.

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