Wählerbefragung in Frankreich:Klingeln für Macrons Europa

En Marche

Mit blauen Luftballons im Dienste von Emmanuel Macron und der EU: Freiwillige wie Justine Henry (links) befragen gerade die Franzosen, was sie sich für Europas Zukunft wünschen.

(Foto: Nadia Pantel)

"Woran denken Sie, wenn ich Ihnen 'Europa' sage?": In Paris ziehen Teams des französischen Präsidenten von Tür zu Tür, um die Menschen zu befragen. Die Antworten sind zum Teil drastisch.

Von Nadia Pantel, Paris

Wenig ist so harmlos wie ein Luftballon. "Wollt ihr einen?", fragt Justine Henry. Der Mann und die Frau, beide dem klassischen Ballon-Alter seit gut 40 Jahren entwachsen, nicken und Henry pustet ihnen ein europablaues Exemplar auf. Das Viertel Goutte d'Or im Norden von Paris ist für seine afrikanischen Schneider bekannt und dafür, dass auf den Parkbänken Straßenkinder aus Marokko übernachten.

Am Square Léon, mitten in der Goutte d'Or, stehen Henry und acht weitere Frauen und Männer mit ihren Luftballons und wollen "mit den Menschen über Europa sprechen". Sie sind das Fußvolk von "La République en marche" (LRM), der parteigewordenen Bewegung Emmanuel Macrons. Vor einem Jahr unterstützten sie ihren Gründer, Frankreichs Präsident zu werden, nun bereiten sie seinen Europawahlkampf vor.

Ihre heutige Aufgabe fordert ein wenig Überwindung. In Zweierteams klingeln sie sich von Tür zu Tür und versuchen, Menschen dazu zu bringen, mit ihnen einen Fragebogen zu ihren politischen Ansichten durchzuarbeiten. Als sei Politik ein neuer Staubsauger. Etwas, an das man länger nicht gedacht hat, das einem aber doch notwendig erscheint, wenn es einem nur nett genug präsentiert wird.

"Guten Tag, wir sind ihre Nachbarn", sagt Henry in die Gegensprechanlage. Von innen wird die Tür geöffnet und Henry bringt Lächeln und Luftballon in Position: "Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?" Die 29-jährige Henry und der 75-jährige Emilio Raimondo sind in ihren En-Marche-Pullovern in den fünften Stock eines Wohnhauses hochgestiegen.

Henry stellt die Eröffnungsfrage ("Frauen klingen immer sympathischer"), dann übernimmt Raimondo. "Woran denken Sie, wenn ich ihnen 'Europa' sage?", fragt er. Vor ihm im Türrahmen lehnt eine Frau im Schlafanzug und lacht. "An Scheiße denk ich da." Raimondo murmelt "Hmmhm".

Die Schlafanzug-Frau ist kein schwerer Fall. Es dauert nur drei Fragen, bis sie enthusiastisch zustimmt, dass man "für ein besseres Europa kämpfen" müsse. Ob sie bei den Europawahlen wählen wird? Sie kann sich nicht erinnern, wann sie überhaupt das letzte Mal gewählt hat. Raimondo will zu einer demokratischen Grundsatzrede ausholen, Henry unterbricht ihn: "Wir wollen hier niemanden überzeugen."

"Wir sind die Partei des Zuhörens"

Im vierten Stock erwartet die Europavertreter ein Anti-Kapitalist, der seine Wohnung renoviert und die Tür direkt wieder zumachen will, als er das Logo der Regierungspartei sieht. Es wird dann aber doch ein längerer Aufenthalt für Henry und Raimondo. "Warten Sie, dieses Buch hier muss ich Ihnen noch zeigen."

Wenn man ihnen zuhört, fangen viele Menschen tatsächlich zu sprechen an. Am Anfang, sagt Henry, hatte sie noch Hemmungen, bei Fremden an die Tür zu klopfen. Doch sie merkte schnell, dass die meisten fast nur darauf gewartet haben, dass sie mal jemand nach ihrer Meinung fragt. Die Frage ist nur, was man dann mit dieser Meinung anstellt.

Zuhören gehört zu den Lieblingswörtern von Macron. "Ich höre zu", "wir sind die Partei des Zuhörens" - er wird nicht müde, das Verb bei jeder Gelegenheit zu konjugieren. Die "Grande Marche pour l'Europe", auf den er nun seine Anhänger wie Henry und Raimondo geschickt hat, ist Zuhören im Akkord.

Engagement für En Marche - "halb aus Angst, halb aus Hoffnung"

Macron, Parteivorsitzender Christophe Castaner und Europaministerin Nathalie Loiseau beschreiben den Marsch als Versuch, die Distanz zwischen europäischer Politik und den französischen Bürgern zu verringern. Frankreichs führende Politiker sprechen dabei nie von Brüssel oder der EU. Sie sagen Europa, als wäre es ihnen selbst unangenehm, dass Entscheidungen bürokratisch organisiert werden müssen.

Henry findet weniger blumige Worte für die Tür-zu-Tür Kampagne. "Für uns ist es wichtig, wie sich die Menschen ausdrücken, damit wir im Wahlkampf wissen, mit welchen Worten wir die Leute erreichen können." Polit-Marketing.

Im dritten Stock kann Henry folgende Bürgerwünsche notieren: "Ich will ein europäisches Konzept für Migration. Damit meine ich keine Mauern, ich will wissen, wie wir Menschen integrieren können." Der 35-jährige Mann, der gerade seiner Tochter Abendbrot machen wollte, erzählt, dass er bei der Präsidentschaftswahl für Macron gestimmt hat. Sein Traum? "Die Vereinigten Staaten von Europa".

Genau unter ihm wohnt eine ältere Frau, die das alles ganz anders sieht. Was sie mit Europa assoziiert? "Katastrophe. Keine Sicherheit mehr. Keine Grenzen mehr." Sie diktiert Macrons Zuhörern eine Stichwort-Liste ihrer Sorgen. Der Fragebogen schubst sie dann sanft auf den Pfad der Zuversicht. "Was funktioniert gut in Europa?" "Naja, die gemeinsame Währung ist schon praktisch." Henry und Raimondo lächeln und nicken und notieren.

Wenn es für Macron gut läuft, wird in diesem Mietshaus gerade die Basis für seinen nächsten Erfolg geschaffen. Dann fließen Henrys Notizen in das Programm von LRM für die Europawahl 2019 ein. Dann ist den Franzosen die Europawahl nicht ganz so egal wie noch 2014, als nur 43 Prozent ihre Stimme abgaben. Im nächsten Schritt würde LRM die stärkste französische Kraft im Europaparlament.

Wie Macron zum Fixstern Europas werden will

Und schließlich, für sie das Idealszenario, entstehen überall in Europa von En Marche inspirierte Bewegungen, die dann mit Macrons Mannschaft gemeinsam eine neue Fraktion in Brüssel bilden. Frankreichs Präsident wäre dann wirklich der europäische Fixstern, als der er jetzt schon gerne gesehen wird. Und es wäre ihm in Europa gelungen, was er in Frankreich geschafft hat: die traditionelle Parteienlandschaft wegplanieren.

Für die studierte Tierärztin Henry und ihr Team geht es um kleinere Fragen. Es ist 20 Uhr, als sie abgleichen, wer "wie viele Türen geschafft" hat. 130 mal haben sie in einer Woche bei Nachbarn im 18. Arrondissement geklopft. Auch wenn sie Anweisung haben, nicht zu missionieren: Sie sind von Europa begeistert. Und von Macron, weil sie "keine Lust mehr auf Lagerdenken" haben, wie Raimondo es nennt, der früher links gewählt hat. Henry findet, Macron "sei auf die bestmögliche Art pragmatisch". Zum ersten Mal verstehe sie, warum ein Politiker tut, was er tut.

Um sich vom Zuhören zu erholen, geht die kleine Gruppe in eine Kneipe. Vor der Tür lassen sie die Luftballons zerplatzen. Sie müssen jetzt nicht mehr harmlos sein, sie dürfen Bier trinken. Warum er hier freiwillig seinen Feierabend opfert? Ein Mann, Mitte 50, im grauen Anzug, überlegt kurz. Dann sagt er: "Halb aus Angst, halb aus Hoffnung." Europa sei doch mal eine gute Idee gewesen, die könne man doch nicht den Nationalisten überlassen.

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